Als der Tag begann
Sneakers gegen die Kabinentüren, solange die Besatzung der Fähre ihre Runden auf der Suche nach Schwarzfahrern drehte.
Die U-Bahn-Fahrt nach Hause holte mich dann abrupt wieder in die Wirklichkeit zurück. Umzingelt von Horden von pendelnden Schulkindern, in schicken Uniformen oder den angesagtesten Modetrends, fühlte ich mich immer einsam. Die gesamte einstündige Rückfahrt nach Hause über machte ich mir Gedanken, was wohl in der Schule los gewesen sein mochte und was ich verpasst hätte.
Ein Überraschungsbesuch der Jugendfürsorge war jeden Tag möglich, so wie an dem Tag, als ich von der Fähre zurückkam und Mrs Cole zu Hause antraf. Es war in diesem Monat schon ihr zweiter Besuch in unserer Wohnung. Ma hatte sie eine halbe Stunde vor meiner Ankunft hineingelassen. Sie waren gerade mitten im Gespräch, als ich zur Tür hineinspazierte, meine Büchertasche wie eine Requisite mit beiden Händen umklammert. Bevor ich den Flur entlang ins Wohnzimmer gegangen war, roch ich schon das Lilienaroma von Mrs Coles Parfüm, das sich deutlich von dem moschusartigen Geruch in der restlichen Wohnung abhob.
Sie redete zuerst, wodurch sie ihre Überlegenheit Ma und mir gegenüber klarstellte.
»Schön, dich zu sehen, Elizabeth«, sagte sie mit erhobenem Kinn und starrem, auf mich gerichtetem Blick. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, ihre Hände ruhten flach auf ihrem Knie. Daddys Ventilator war aus dem Schlafzimmer angeschleppt und ins Wohnzimmerfenster gestellt worden. Auf Mrs Cole gerichtet, bot er einen ungewohnten Anblick und zerzauste während ihrer Ansprache die zipfeligen Enden ihres Haarteils.
»Elizabeth, ich bin heute hier, weil ich trotz deines Versprechens, zur Schule zu gehen, wieder einen Anruf bekommen habe. Mrs Peebles hat dich seit fast einer Woche nicht mehr zu Gesicht bekommen. Jetzt möchte ich gern hören, was du dazu zu sagen hast. Warum bist du nicht in die Schule gegangen, Elizabeth?«
Ihre Frage beeindruckte mich wegen ihrer Direktheit und ihrer hieb- und stichfesten Logik. Einerseits ergab es für sie Sinn, diese Frage zu stellen, andererseits, in Anbetracht der chaotischen Verhältnisse, in denen wir lebten, war diese Frage völlig sinnentleert. Denn wenn Logik allein ausreichen würde, Dinge zu ändern, dann hätte sie sich genauso leicht fragend an Ma wenden können: Warum sind Sie auf Drogen, Ma’am? Warum ist der Kühlschrank leer? Warum ließen Sie es zu, sich mit HIV anzustecken, wo Sie doch zwei Kinder und Ihr ganzes Leben vor sich haben? Mrs Cole könnte jede dieser Fragen stellen; stattdessen hatte sie diese eine aus der Gesamtmenge der fragwürdigen Situationen in unserer Familie herausgegriffen, und sie stellte sie mir.
Ich sah Ma an, die zusammengesunken, mit halb geschlossenen Augenlidern, auf ihrem Stuhl saß. »Ich kann da nichts machen, Lizzy. Du musst einfach nur zur Schule gehen, du musst.« Den Schlussteil ihrer Ansprache richtete sie an die Wand.
Mrs Cole klopfte auf den Couchtisch, wobei ihr Goldring auf das Glas schlug.
»Setz dich, Elizabeth«, sagte sie. Ich hasste sie dafür, mich Elizabeth zu nennen, dafür, einfach zu uns ins Haus zu kommen und uns herumzukommandieren. Gehorsam setzte ich mich zu ihr auf den Rand des Tisches. Sie sah mich mit einem Blick an, der unmissverständlich klarmachte, dass sie jetzt zur Sache kam. Wenn ich denselben Gesichtsausdruck nicht schon so oft bei Sozialarbeitern gesehen hätte, hätte ich sie wahrscheinlich ernster genommen.
»Du musst zur Schule gehen, Elizabeth. Wenn du nicht gehst, bring ich dich hier weg, so einfach ist das. Deine Mutter hat mir gesagt, dass sie dich in die Schule schickt und du nicht hingehst.
Also, das muss sich ändern. Und du und deine Schwester müsst eurer Mutter helfen, diese Unordnung hier aufzuräumen. Richte Lisa das aus. Ich meine es ernst. Diese Wohnung ist e-kel-er-regend , ein richtiger Saustall.«
Wie sie das Wort betonte, es in die Länge zog und dabei lächelte, zeigte mir, dass sie sich uns überlegen fühlte. Mrs Cole genoss ihren Machtrausch geradezu.
»Ich weiß gar nicht, wie man hier überhaupt wohnen kann. Ihr seid jetzt alt genug, um irgendetwas dagegen zu unternehmen .« Sie erhob kurz die Stimme, fuhr dann aber in einem beängstigend ruhigen Tonfall fort: »Es gibt Orte für Mädchen wie dich.«
Diesem Teil der Standpauke zuzuhören gestaltete sich am schwierigsten. Sie war genau der Typ Mensch, auf den Rick und ich vom Dach aus einen mit Wasser gefüllten Ballon
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