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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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Vater eine Chance geben. Vielleicht hört er ja auch mit den Drogen auf, und dann müssen wir nirgendwo anders hingehen.«
    Sie legte ihre Hand auf meine Schulter. »Weißt du, Lizzy, ich werde nicht immer da sein. Mir geht es nicht gut, Kleine, das weißt du. Ich muss aufhören, so zu leben. Ich möchte noch dableiben und meine beiden Mädchen erwachsen werden sehen. Also … müssen sich ein paar Dinge ändern.«
    Meine Augen füllten sich mit Tränen, die mir über die Wange liefen. Irgendwann drehte ich mich um und sah sie direkt an. Ma ließ sich nach hinten auf den Po plumpsen. Mir gegenübersitzend, ergriff sie meine beiden Hände und drückte sie fest; ihre Berührung war warm und beruhigend. Diese seltene Freude, Ma ganz und gar für meine Bedürfnisse empfänglich zu sehen, war etwas, dessen Fortbestehen ich mir so sehr wünschte.
    »Ja, Ma, vielleicht hört Daddy auch mit den Drogen auf«, sagte ich.
    »Gut möglich, Lizzy.«

    Wir blieben noch einen Moment lang schweigend sitzen, und wir wussten beide ganz genau, dass keiner von uns daran glaubte.
    Angesichts meiner ganzen Fehlzeiten rechnete ich nicht damit, in die siebte Klasse versetzt zu werden und damit auf die Junior High School zu kommen, aber irgendwie schaffte ich es. Augenscheinlich teilten ein paar meiner Klassenkameraden meine Überraschung, weil es an dem Tag, an dem ich mein Abschlusszeugnis erhielt, jede Menge Kommentare hagelte. » Dich haben sie durchgelassen, Elizabeth?«, meinte Christina Mercado und wandte sich dann ihren Freunden zu. »Verdammt, da frag ich mich doch, warum wir uns die Mühe gemacht haben, immer aufzukreuzen, wenn sie diese Lappen einfach verschenken ? Wisst ihr, was ich meine, Girls?« Sobald ich mich neben Christina oder eine ihrer Freundinnen gesetzt hatte, hatten sie alle die ganzen Jahre über mit Zetteln vor ihrer Nase gewedelt und übertrieben gehustet, um auf meine dreckigen Kleider und die offensichtlich dringend nötige Dusche anzuspielen. Oder sie beschimpften mich in der Pause und fertigten Zeichnungen an, in denen Ungeziefer meine Haare bevölkerten und aus meinem Körper Schwaden von schlechtem Geruch aufstiegen. Als ich schweißgebadet in meiner abgewetzt glänzenden Abschlussrobe in der Aula saß und der Schulleiter jeden einzelnen Schülernamen aufrief, lachten sie alle über den letzten Witz, den Christina auf meine Kosten machen würde. Ich war froh, dass Ma, Daddy und Lisa nicht da waren und so nichts davon mitbekamen.
    Während ich mein Abschlusszeugnis erhielt, lag Ma, alle viere von sich gestreckt, im Bett und erholte sich von einer Nacht mit White Russians. Daddy war unterwegs auf einem seiner Abstecher in die Stadt, einer dieser berühmt-berüchtigten Ausflüge, die Ma gewöhnlich so geärgert hatten, damals, als sie sich noch für sein Leben interessierte. Nachdem die Zeremonie zu Ende war und Eltern Fotos von ihren Kindern mit deren Lehrern und Freunden machten, verschwand ich ohne Aufhebens durch die Seitentür. Im
Flur unseres Wohnhauses nahm ich, bevor ich die Wohnung betrat, meine Kappe ab und zog die Robe aus, damit Ma keine Schuldgefühle bekam, weil sie die Zeremonie verpasst hatte. Als Ma später am Abend aufwachte und sich für ihr Versäumnis entschuldigte, versicherte ich ihr: »Es war so langweilig, Ma, du hättest es gehasst. Ich war so froh, da wegzukommen. Ich wünschte, ich hätte auch hierbleiben und schlafen können, aber ich wollte meine Lehrer nicht vor den Kopf stoßen, weißt du?«
    Von meinem Abschluss bis zu dem Tag, an dem Ma an meinem Bett stand, in einem körperbetonten T-Shirt und mit ordentlich zurückgekämmtem Haar, und mich wieder und wieder darum bat, mit ihr in Bricks Apartment zu ziehen, schien es ruck, zuck gegangen zu sein.
    »Schätzchen, ich hab mein Bestes gegeben«, sagte sie. »Bitte, Kleines, komm mit mir mit.«
    Aber ich umklammerte mein Kissen und rührte mich nicht.
    »Ich geh da nicht hin, und du solltest das auch nicht tun! Wir sind eine Familie, Ma. Du kannst nicht weggehen !«, schrie ich sie an. »Bitte, Ma, bleib hier!«, bettelte ich weinend. »Bitte bleib hier zu Hause, bleib hier bei mir, bitte.«
    Ich hörte nicht auf zu flehen; ich rief ihr sogar noch aus meinem Schlafzimmerfenster hinterher, bis sie und Lisa in ein Taxi einstiegen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, mir jemals so ehrlich etwas gewünscht zu haben, und trotzdem hinterließ es keinerlei Eindruck bei ihr. Lisa schien genauso aufbruchbereit zu sein wie Ma, weil sie

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