Als der Tag begann
eine auf diesem Foto eingefangene Geste war der größte Liebesbeweis, den ich je zwischen meinen Eltern mitbekommen hatte. Ich fühlte mich, als sähe ich mir Fremde an.
Aber mein Lieblingsbild war mit Abstand ein Porträt von Ma, schwarz-weiß, aufgenommen im Highschool-Alter. Mit diesem ernsten Ausdruck in ihrem wunderschönen Gesicht hätte sie ein Model sein können, dachte ich. Das Foto zog mich an, und ich starrte es unendlich lange an, starrte auf diesen einen Moment in Mas Leben, bevor sie loszog und versehentlich Kinder bekam, diesen Moment vor der psychischen Erkrankung, vor der Sozialhilfe und sogar vor HIV. Ich fragte mich, ob es das war, wohin sie immer wieder zurücklief: in ihr altes Leben, in glücklichere Zeiten, in denen es nicht um Kinder ging, um eine Schule schwänzende Tochter, die sie störte, verrückt machte, sie aufhielt, sie krank machte. Als ich endlich alles wieder in die Plastiktüte packte, behielt ich nur diese Porträtaufnahme und steckte sie in die Gesäßtasche meiner Jeans, die ich unter Mas Morgenmantel anhatte.
Das Zurückstellen der Tüte gestaltete sich schwieriger als das Herankommen, also holte ich mir einen Stuhl aus der Küche und stellte mich darauf, um über die Plattenkisten schauen zu können. Dabei fiel mein Blick auf etwas, das ich vorher übersehen hatte, eine alte verstaubte Holzschachtel ganz hinten auf dem oberen Regal im Schrank meiner Eltern. Ich stellte die Farmers’-Market-Tüte wieder an ihren Platz und hob die Holzschachtel über die Plattenkisten heraus; sie war viel schwerer, als ich angesichts ihrer Größe erwartet hatte. Ich kletterte wieder von meinem Stuhl und setzte mich, mit der Schachtel auf meinem Schoß, auf das Bett meiner Eltern.
In der Kiste befand sich ein Sammelalbum, das durch Gummibänder zusammengehalten wurde, die so alt waren, dass sie zerrissen, als ich an ihnen zog. Ein paar der Fotos fielen auf den Boden. »SAN FRANCISCO« stand oben auf den Albumseiten in der ausladenden Handschrift meines Vaters. Auf jeder Seite war ein Bild nach dem anderen von Daddy, der darauf noch jünger aussah als auf den Fotos mit Ma, den Kopf voller Haare. Da gab es Aufnahmen von ihm, wie er auf die Golden Gate Bridge im Hintergrund zeigte, entspannt am Strand lag, mit Freunden grillte und sich auf Partys amüsierte.
Auf einem Foto stand Daddy vor einem Geschäft, das City Lights Bookstore hieß, in einer Reihe mit vier gut angezogenen Männern, die vor der Kamera besonders ernst taten, mit vorgeschobenem Kinn und wegen der Sonne zusammengekniffenen Augen.
Dann waren da noch zwei weitere Aufnahmen von Daddy, auf deren Rückseite drei Worte in einer mir unbekannten Handschrift festgehalten waren: »AT CITY LIGHTS« . Auf einem liest Daddy und scheint nicht zu bemerken, dass er fotografiert wird. Auf dem anderen sitzt er inmitten von Gleichaltrigen wie bei einer Veranstaltung vor einem bärtigen Mann, dessen Arm auf eine Art erhoben ist, die darauf schließen lässt, dass er eine Geschichte erzählt.
Mit einer Klammer am Rücken des Albums befestigt, befand sich ein alter Brief, dessen verblasste Absenderadresse ich als die meiner Großmutter auf Long Island erkannte. Ich faltete die kurze, von Hand geschriebene Notiz auseinander, in der sie Daddy ihre Überraschung mitteilte, dass sie an diesem Tag den Scheck über seine Schulgebühr von der Schule zurückgeschickt bekommen hatte, uneingelöst. In dem kurzen Brief berichtete sie, dass Daddys ehemaliger Mitbewohner ihr seine Adresse in Kalifornien gegeben habe, und sie fragte nach, wann er gedenke, sein Studium fortzusetzen, und wie lange er im Westen »Ferien machen« wolle. Sie unterschrieb mit Liebe Grüße, Deine Mutter , genau wie
jede Geburtstagskarte, die sie ihm zu uns nach Hause geschickt hatte.
An Grandmas Brief befestigt, befanden sich noch zwei weitere Briefe; sie waren ungeöffnet und nicht an Daddy adressiert, sondern an einen Mr Walter O’Brien in San Francisco. Beide trugen den Stempel ZURÜCK AN DEN ABSENDER. In meinem ganzen Leben hatte ich Daddy noch nie einen Brief an irgendjemanden schreiben sehen, und ich fragte mich natürlich, was da wohl drinstehen könnte. Aber mir war klar, dass ich bereits herumschnüffelte und dass ich nicht ungestraft davonkommen würde, wenn ich sie öffnete, also hielt ich mich an die Postkarten. Auf einer war ein Foto, das am Fuß eines sehr kurvenreichen Hügels gemacht worden war, und darunter stand LOMBARD STREET. Sie war an Daddy an eine Adresse
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