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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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Schülerbriefkasten
vor, in denen ich zu einem Treffen mit dem Betreuungslehrer aufgefordert wurde, um über meine Schwänzerei zu reden. Obwohl mich die Mitteilungen nervös machten, ignorierte ich sie. Ich behielt das dicke Briefpapier der Schule den ganzen Weg zur Bushaltestelle in der Hand und zerriss es in tausend kleine Fetzen, die ich hinter mir fallen ließ.
    Ich war richtig gut darin, offizielle Mitteilungen der Schule und des Jugendamtes nicht zu beachten – genauso wie ich mich daran gewöhnt hatte, die ständige Fragerei »offizieller« Leute zu ignorieren, die sich unserer Familie immerzu aufdrängten: Sozialarbeiter, Mas Betreuer von der Sozialhilfe, enttäuschte Fach- und Betreuungslehrer. Sie hatten sich nie wie eigenständige Personen angefühlt. Für mich waren sie vielmehr eine alles missbilligende Einheit, eine Stimme, die immer dieselben Drohungen wiederholte, mich in einem Heim »unterzubringen«, die über meine Fehler den Kopf schüttelte und meiner Familie sagte, wie sie ihr Leben leben sollte. Ich reagierte auf alle gleich, entsorgte die von ihnen geschickte Post und verbarrikadierte mich zu Hause.
    Daddy besuchte auf seinen regelmäßigen Ausflügen in die Stadt seine Freunde, und ich verbrachte meine Tage zufrieden auf der Couch vor dem Fernseher. Manchmal durchwühlte ich Mas Kommodenschubladen auf der Suche nach Dingen, die mich an sie erinnerten. Dann wieder war ich einfach zufrieden damit, in Mas Morgenmantel wie in eine Decke eingehüllt zu schlafen.
    Eines Tages, als Daddy aus irgendeinem Grund wieder nach Downtown gegangen war, verbrachte ich den Nachmittag damit, Mas und seinen Schrank zu durchforsten. Ich entdeckte ganz hinten ein riesiges Geheimversteck ihrer Sachen aus den Siebzigern. Hinter Kisten voll staubiger Schallplatten und Achtspurbändern lag eine Plastiktüte mit dem Schriftzug FARMERS’ MARKET und dem aufgedruckten Bild eines alten Mannes im Overall beim Pflügen eines Heufelds. Ich kippte den Inhalt auf Mas und Daddys Bett: ein Satz türkisfarbener Pfeifen fürs Haschischrauchen, ein
tränenförmiger Bernsteinanhänger, der Abschnitt einer Museumseintrittskarte und ein dicker Stapel alter Fotos, deren Ecken sich bereits altersschwach aufbogen. Dann waren da noch drei billige Silberringe, der kleinste mit einem eingravierten Peace-Zeichen und genau passend für meinen Finger. Zwischen den Fotos verteilt klebten Krümel aus ihren Pfeifen, die einen beißenden Geruch nach Tabak und Gras von sich gaben. Die meisten Leute auf den Fotos kannte ich nicht – Menschen in den Zwanzigern mit Stirnbändern und gebatikten T-Shirts, im Stadtpark oder neben alten Volkswagen platziert. Es war der Beweis, dass Ma ein Leben vor mir hatte, und ich wurde auf unangenehme Art daran erinnert, dass sie sich ein Leben nach mir aufbauen konnte.
    Ich fand eine verblasste Aufnahme von Ma und Daddy zusammen, aufgenommen in unserer Küche, als sie noch weitgehend neu war. Daddy hatte dunkle, breite Koteletten, mündend in eine vollere Haarpracht; Ma trug Afrolook und eine Bluse mit Paisleymuster. Keiner der beiden blickte für das Foto auf, sondern sie hielten beide Kopf und Blick gesenkt, als hätten sie gerade schlechte Nachrichten mitgeteilt bekommen.
    »Ihr seht unglücklich aus«, sagte ich ihnen. »Ihr seid unglücklich. «
    Allerdings entdeckte ich beim Durchblättern des restlichen Stapels dann doch noch einen Haufen Bilder, die wiederum bewiesen, dass es tatsächlich viel glücklichere Zeiten gegeben hatte — wie zum Beispiel das eine Foto von ihnen, auf dem sie in einem Wohnzimmer stehen, das ich nicht wiedererkannte. Auf dem Bild grinsten sie beide breit, die Augen verborgen hinter rot getönten Sonnenbrillen. Ma und Daddy hatten passende Unisex-Ledermäntel an und hielten Händchen, was ich nie bei ihnen gesehen hatte. Ein anderes Foto zeigte Ma während eines Lachanfalls. Sie saß im Schneidersitz auf einem dicken, orangefarbenen Teppich, in einem weißen T-Shirt und Mikrojeansshorts. Ihr Kopf war in einem Augenblick purer Freude nach hinten geworfen. Um ihre Schultern hatte sich irgendeine lange, muskulöse Schlange gekringelt,
die sie mit ihren kleinen Händen hochhielt. Auf noch einem anderen Bild blies Ma Kerzen auf einem Geburtstagskuchen aus. Sie war von mehreren Leuten umringt, die ich nicht kannte, die klatschenden Hände eingefangen in ihrer Bewegung. Daddy stand, den Arm um ihre Schulter gelegt, neben Ma; er beugte sich zu ihr, um sie auf die Wange zu küssen.
    Diese

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