Als der Tag begann
Nacht erzählt hatte, gesprochen. Meistens sagte ich mir selbst, ich hätte vielleicht nur geträumt; ich ging auch davon aus, dass sie Lisa nie etwas erzählt hatte, denn ganz sicher hätte sie dann etwas zu mir gesagt. Es fühlte sich so an, als teilten Ma und
ich ein schmutziges Geheimnis, und deshalb schien sie Angst vor mir zu haben. Die Distanz, die sie zu mir hielt, verriet es mir. Wir wussten kaum noch, wie wir miteinander reden sollten, vielleicht weil so vieles unausgesprochen blieb.
Daddy schoss zuerst Ma ab; ich konnte ihr Schniefen hören. Leonard war als Nächster dran. Daddy nahm seinen Schuss mit ins Bad, wie so oft zog er es vor, es allein zu erledigen. Gerade als ich nun endgültig zu meinem Treffen mit Rick und Danny aufbrechen wollte, fing Leonard wieder mit seinem Drogenrauschgewinsel an.
Dadurch dass sie mir von ihrem HIV erzählt hatte, war ich Teil ihrer schmerzlichen Erinnerungen geworden, denen Ma durch ihr Zudröhnen entfliehen wollte. Ich war mir dessen in dem Maße sicher, wie mir ihre Abwendung das Herz brach. Und wenn ich mir gegenüber ehrlich war – trotz erheblicher Versuche, es nicht zuzugeben – , brachte mich das Wissen um ihre Krankheit dazu, ihr aus dem Weg zu gehen. Ma nahe zu sein, hieß, der Krankheit nahe zu sein, und auch dem Wissen darum, dass ich dabei war, meine Mutter rasch zu verlieren — eine Erkenntnis, die nicht auszuhalten war.
Ich hob meinen Rucksack auf den Rücken und ging an der Küche vorbei. »O Gott, Jeanie, mein Herz rast«, winselte Leonard lautstark am Küchentisch. »Halte meine Hand.«
Der Anblick, wie sie seine Hand umklammerte, verursachte mir überall Schmerzen. Ich ging schnell weg, gerade noch rechtzeitig, da war ich mir ganz sicher, um das Mithören des immer gleichen grauenhaften Gesprächs zu vermeiden.
Brick lernte ich kaum einen Monat später an einem Wochentag kennen. Ma ließ mich die Schule schwänzen und nahm mich mit zu der Kunstgalerie, in der er arbeitete, damit wir zu dritt mittagessen gehen könnten, auf seine Einladung hin. Als wir aus dem Zug an der 23rd Street ausstiegen, begann Ma, nervös zu werden und sich offensichtlich unwohl zu fühlen.
»Lizzy, sehe ich gut aus? Gefällt dir der Pulli?« Sie trug einen flauschigen pinkfarbenen Pulli mit V-Ausschnitt und Hüfthosen, und sie hatte den ganzen Tag nicht getrunken oder gar gefixt. Ihr langes, lockiges Haar war ordentlich zurückgesteckt. Es war das erste Mal seit Jahren, dass ich sie ohne ihre gammeligen T-Shirts und nicht in dreckigen Jeans sah.
»Ja, Ma, du siehst wirklich nett aus. Keine Sorge. Warum machst du dir Gedanken darüber, ob er dich hübsch findet oder nicht? Wen interessiert schon, was er denkt?«, sagte ich.
»Mich, Schätzchen. Ich mag ihn.«
Ihre Direktheit versetzte mir einen Schock. Es war eine Weile her, dass Ma und ich offen zueinander gewesen waren; es fühlte sich an, als würde sie mich auf die Probe stellen.
»Deine Ma mag jemanden. Ich war schon lange nicht mehr verknallt. « Sie lächelte nervös und rangierte Daddy mal eben komplett aus.
Ich wusste, dass es nicht nur Brick war, der sie nervös machte, es lag auch an mir. Nachdem Lisa zur Schule gegangen und Daddy in die Stadt losgezogen war, hatte ich mindestens den halben Vormittag gebraucht, um Ma davon zu überzeugen, mich mitzunehmen. Zum ersten Mal seit Langem waren nur wir beide zusammen – wenn auch nur so lange, bis wir uns mit ihm trafen, und dann noch die Zeit danach. Ich wusste, dass sie sich unwohl fühlte, weil es mir genauso ging. Und obwohl ich Ma oft anblaffte, sehnte ich mich danach, dass sie jetzt meine Hand hielt, mit mir redete, mit mir diese Erfahrung durchlebte. Ich wollte, dass sie an meiner Meinung interessiert war, mich fragte, wie sich das Ganze für mich anfühlte. Aber stattdessen redete sie den ganzen Weg lang nur über ihn; wie sehr er an seiner Karriere arbeitete, wie beständig er sei, ein richtiger Familienmensch. Ich hielt den Mund und schmiedete eine Art Plan in meinem Kopf: Ich würde Brick testen, und durch meine missbilligende Stellungnahme würde Ma seine Fehler klar erkennen, genauso wie ihre eigenen fehlgeleiteten Ansichten. Und damit wäre unsere Familie gerettet.
Mas Beschreibung der Galerie war gespickt mit Ehrfurcht und Bewunderung, als sei die Professionalität des Unternehmens irgendwie ein Beweis für Bricks Verlässlichkeit. Wir gingen quer über die Straße auf ein schmales und sehr hohes Gebäude zu, dessen Stockwerke vom Boden bis
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