Als die Erde bebte
sie bekommen.
Die Tatsache, dass ihr kalter, harter und egoistischer Vater noch immer ihr Leben beeinflussen konnte, noch dazu in solch einem Moment, wo jede Sekunde zählte, machte sie irgendwie wütend.
“Ich habe gern alles unter Kontrolle”, sagte sie stolz. Zu oft hatte sie sich anhören müssen, dass sie nicht so sein durfte wie die Mutter, die sie nie kennengelernt hatte. Die Mutter, die wild und unbeherrscht gewesen war, bevor sie sich nach Ambers Geburt auf und davon gemacht hatte.
Ein Flittchen, erinnerte ihr Vater sie immer wieder.
Nein, Amber durfte nicht so sein wie ihre Mutter.
Dazu bestand auch kaum eine Chance, da sie ohne mütterlichen Einfluss aufgewachsen war, der ihrem strengen, unbeugsamen Vater hätte entgegenwirken können. Es gab Zeiten, da hätte sie alles getan, um seine Anerkennung zu gewinnen, doch die hatte sie nie bekommen. Also hatte sie gelernt, ohne sie zu leben.
Und sie wurde nicht müßig, sich einzureden, dass sie weder von ihm noch von sonst jemandem Anerkennung brauchte.
Demzufolge verlief ihr Leben ruhig. Gut, vielleicht auch ein wenig langweilig, aber sie war überzeugt davon, dass es das war, was sie wollte. Sie brauchte nichts und niemanden, und sie brauchte ganz sicher nicht das, dessen sie sich insgeheim für unwürdig erachtete: Liebe.
Folglich ging sie ganz in der einen Sache auf, die sie niemals verletzen oder enttäuschen würde – ihrer Arbeit –, und das gefiel ihr auch gut so.
Wieso verspürte sie dann jetzt, sozusagen im Angesicht des Todes, auf einmal Bedauern? Was war das für eine schreckliche Traurigkeit, die sie da überfiel? Dieser Gedanke, das Leben verpasst zu haben, weil sie sämtliche Gefühle und Leidenschaften ignoriert hatte, nur um im Beruf erfolgreich zu sein?
Sie war alleinstehend; es gab keinen Ehemann, keine Kinder. Sie hatte nicht einmal einen Freund.
Wie wäre es wohl, wenn jetzt ein Mann zu Hause auf sie wartete und sich um sie sorgte? Ein Mann, der sie von ganzem Herzen liebte?
Das würde sie nun wohl niemals mehr erfahren.
Erneut begann die Erde zu beben.
Und ehe es ihr richtig bewusst wurde, warf sich der Fremde wieder auf sie. Er hatte große, warme Hände, die sich beruhigend um ihren Kopf schlossen.
Dieses Beben war zu Ambers großer Erleichterung sehr viel schwächer, sodass sich diesmal ihre Angst in Grenzen hielt und sie auch andere Dinge wahrnehmen konnte.
Zum Beispiel den Mann, der auf ihr lag.
Sie spürte das heftige Klopfen seines Herzens, seine Hände, die sanft ihren Kopf hielten, und seinen kräftigen Körper. Die merkwürdigsten Empfindungen durchströmten sie.
Begehren, erkannte sie entsetzt.
Du meine Güte, ein kleines Unglück und schon verhielt sie sich wie ihre Mutter!
Sie konnte es nicht glauben und gab prompt den Umständen die Schuld für ihre mangelnde Beherrschung. Doch der Kontakt zwischen ihr und diesem Mann erschien ihr wie Feuer und Eis gleichzeitig, und das verwirrte sie. Sicher lag es nur an der Gefahr, an dem Gefühl des nahen Todes, dass sie sich so vorkam – so weich und so … heiß. Unruhig bewegte sie sich ein wenig.
“Es ist okay”, flüsterte er mit dieser unglaublichen Stimme, bei der sie regelrecht dahinschmolz.
Nein, sie durfte sich ihren Gefühlen nicht hingeben, musste dagegen ankämpfen. Während sie krampfhaft versuchte, an etwas anderes zu denken, hörte sie ein Wimmern und stellte zu ihrem Entsetzen fest, dass es von ihr kam.
Peinlich berührt wand sie sich unter ihm, um sich sowohl von ihm als auch diesen ungewohnten Gefühlen zu befreien.
“Pst, es ist alles in Ordnung”, raunte er ihr zu und drückte sie mit erstaunlicher Leichtigkeit auf den Boden zurück.
In diesem Moment ertönte über ihnen das donnernde Geräusch von noch mehr herabstürzenden Steinen. Es war lauter und erschreckender, als Amber sich je hätte vorstellen können. Ein paar Brocken schlugen sogar polternd auf den Schreibtisch und ließen Amber vor Schreck erstarren.
Jetzt würden sie sterben.
Ich muss raus, dachte sie panikartig und wollte aufspringen. Doch sie konnte sich kaum bewegen, dafür hielt er sie zu fest, während er ihren Körper mit seinem schützte.
“Kämpfen Sie nicht gegen mich an”, flüsterte er beruhigend in ihr Ohr. “Wir müssen hier liegen bleiben.”
“Nein”, keuchte sie und wand sich erneut, während das Gebäude um sie herum einstürzte.
Verstand er es denn nicht? Sie hatte sie verloren, ihre hochgeschätzte Selbstbeherrschung, und die größte Gefahr lag
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