Als die Roemer frech geworden
den Marschweg des Varus einbog, um im Nachvollzug des Todesmarsches wieder
zurück in das Gebiet der mittleren |134| Ems zu ziehen, das im Kerngebiet der Großen Brukterer und der nördlich angrenzenden Ampsivarier lag. Diese Strategie ist nicht
nur sinnvoll, weil sie das ganze Gebiet der Brukterer erfasste, die – neben den Marsern und den Chatten – ein weiterer Hauptgegner
des Varus waren, sondern erfüllt auch die geographischen Vorgaben des Tacitus, der die Entfernung zwischen den Stätten der
Varuskatastrophe und dem Aufenthaltsort des Germanicus (hier Paderborn) als nicht weit entfernt
( haud procul
) charakterisiert hat.
Insgesamt also scheint die knappe Darstellung des Tacitus zum Heerzug im Spätsommer des Jahres 15 durchaus zusammenhängend.
Dieser begann demnach im Raum von Rheine und endete im Raum von Rheine, nachdem Germanicus mit Arminius ein erstes Mal direkt
zusammengetroffen war und kurz bevor der römische Oberbefehlshaber seine Truppen auf der Ems einschiffte und die Caecina-Legionen
auf den Landweg über die
pontes longi
nach Vetera/Xanten zurückschickte.
Der Zug des Varus – ein langer Weg, zu lang?
Demnach wäre Varus auf dem Weg zu den Aufständischen östlich des Eggekamms Richtung Osnabrück etwa im Werre-Tal bzw. entlang
des Längswegs von Warburg/Kassel her über Driburg, Horn und Detmold gezogen. Der dadurch vorauszusetzende lange Marsch des
Varus von der Weser bis mindestens Kalkriese ist denkbar, wenn
vier Tage
(einschließlich eines Nachtmarsches) vom ersten Angriff bis zum Tode des Varus zu veranschlagen sind, wie aus der Darstellung
bei Tacitus und Cassius Dio erschlossen werden kann. Weiterhin erhöht sich die Wahrscheinlichkeit der Annahme eines solch
langen Weges in die Katastrophe, wenn gemäß der Darstellung von Cassius Dio die Marschrichtung in Begleitung der vermeintlichen
Freunde weg von der Lippelinie von Beginn an eingeschlagen wurde, die Angriffe aber erst nach geraumer Zeit und in einiger
Entfernung von der Lippelinie einsetzten, sodass sich eine Umkehr nicht mehr lohnte.
|135| Folglich ist die provokative Feststellung der Ausgabe des
heute journals
vom 22. 6. 2000 am Anfang eines Beitrages zu den Grabungen von Kalkriese: „Hermann steht auf dem falschen Platz!“ zu differenzien: Die
Defilee-Gefechte der in den Hinterhalt gelockten Varusarmee setzten vermutlich irgendwo nordwestlich von Detmold ein. Sie
verliefen trotz der guten Vorbereitungen durch Arminius und des Überraschungsmoments am ersten Kampftag nicht so erfolgreich,
nahmen aber nach dem ersten Kampftag einen vorhersehbaren Verlauf, der zur Endkatastrophe westlich des Engpasses von Kalkriese
noch östlich der Ems führte, nachdem der Heerzug das Wiehengebirge (vielleicht bei Ostercappeln) passiert hatte und nicht
zu den Hauptverkehrstrassen entlang der Lippe zurückgekehrt war.
Wichtiger noch als die Bestimmung der „Örtlichkeiten“ ist aber der Versuch einer angemessenen Bewertung der Niederlage des
Varus und der Strategie des Arminius. Nach Jahrhunderten der nationalen Überhöhung der Leistung des Arminius trat eine erste
Trendwende Ende der 60er- und Anfang der 70er-Jahre ein. Eine wirkliche Zäsur bildeten die „Arminius-Studien“ Dieter Timpes,
die den Grundlagen nationaler Überhöhung den Boden entzogen, indem der Autor an die Konstruktionen der Fachkollegen das Seziermesser
ansetzte. 36
War Arminius mehr Römer als Germane?
Demnach ist Arminius gar kein echter Vertreter gesamt-germanischer Interessen gewesen, handelte nicht einmal als ein Stammeshäuptling.
Vielmehr war er schon lange nicht mehr in der Heimat gewesen, als er seine Verschwörung gegen Varus ins Werk setzte. Er stand
– wie sein Bruder Flavus – jahrelang in römischen Diensten, und nicht nur das: Er war ein römischer Offizier und Befehlshaber
einer Auxilieneinheit, die wahrscheinlich mehrheitlich aus Stammesangehörigen bestand. Und er war ein erfolgreicher „Kollaborateur“,
denn er erhielt das römische Bürgerrecht und war – als er im Jahr 8 n. Chr. endlich „nach Hause“ zurückkehrte – römischer
Ritter, gehörte also zum Adel der römischen Gesellschaft.
|136| Und besonders schmerzlich: Die Varuskatastrophe, die bislang so gern als gemeinsame „nationale“ Tat der Germanen interpretiert
wurde, sollte nach Timpe keine Erhebung germanischer Stämme sein. In der Tat hat nicht einmal die Mehrheit der Stämme hinter
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