Als die schwarzen Feen kamen
Händen und transparenter Haut über blauschwarzen Adern. Weitere Risse durchbrachen nun die gleichmäßig glänzende Oberfläche des Kokons. Beine kamen zum Vorschein, eine zweite Hand erschien und zerrte an der aufgeplatzten Membran – bis diese schließlich zerfetzt zu Boden fiel.
Ein donnerndes Rauschen wie von gewaltigen Meereswellen wühlte die Luft in dem stillen Gewölbe auf und ließ etliche Feen haltlos umhertaumeln. Riesige schwarze Schmetterlingsflügel entfalteten sich und trugen das frisch geschlüpfte Wesen hoch unter die Kuppel des Kirchenschiffs. Aus lidlosen schwarzen Augen starrte es auf den Feenschwarm herunter.
Wir haben die nächste Stufe erreicht. Die Metamorphose ist abgeschlossen. Wir haben nun einen neuen, starken Körper, der sich in der Menschenwelt frei bewegen kann.
Das aufgeregte Sirren hoher Stimmen ließ die Luft erzittern, untermalt vom vielfachen Applaus winziger Hände.
Der dunkle Blick der überlebensgroßen Fee glitt über ihre zahlreichen kleinen Schwestern hinweg. Ein Lächeln teilte ihre bleichen Lippen.
Fangt an, weitere Kokons zu weben! Wir alle sollten eine Menschengestalt annehmen können, ehe wir die Schatten endgültig verlassen!
Langsam glitt die Fee durch den summenden Schwarm zu Boden. Das zufriedene Lächeln leuchtete nun auch in ihren Augen wider und spiegelte sich in den unzähligen Gesichtern des schwarzen Schwarms, der sich bereits sammelte. Hunderte von Feen drängten sich in einer dichten, etwa menschengroßen Wolke zusammen und begannen, sich mit einem Kokon aus Lebensfäden zu umgeben– der Energie, die sie ihren menschlichen Wirten im Jenseits geraubt hatten.
Die große Fee breitete ihre Flügel aus und hob den Kopf zum zerborstenen Fenster über dem Kirchenportal.
Wir holen uns derweil den Schattenseher.
Einundzwanzigstes Kapitel: Der Doktor und der Wurm
Am Nachmittag, nachdem er sich tapfer durch die letzte Schulstunde gekämpft hatte, stand Gabriel wieder vor dem Haus, in dem sich die Praxis von Maries Therapeuten befand. Unschlüssig sah er an der Fassade hinauf. Sollte er wirklich hineingehen? Er fühlte sich ein wenig unwohl bei dem Gedanken, hinter Maries Rücken Nachforschungen anzustellen. Sie hatte ihm gestern immerhin allzu deutlich gezeigt, was sie von seiner Verschlossenheit hielt, und er verstand, dass sie verärgert war. Aber Gabriel konnte einfach noch nicht mit ihr reden. Selbst wenn die Bestie ihn am Vorabend nicht so sehr vereinnahmt hätte, dass kaum Platz für einen anderen Gedanken blieb als den, sie im Zaum zu halten, hätte er es als schwierig empfunden. Gabriel hatte noch nie gute Erfahrungen damit gemacht, wenn Menschen von seinem Geheimnis erfuhren. Zwar hatte er bei Marie das unbestimmte Gefühl, dass sie vielleicht anders reagieren würde, als er befürchtete. Aber er war einfach noch nicht so weit. Er konnte sich noch nicht öffnen. Selbst, wenn seine Bestie da anderer Meinung war.
Gabriel dachte an die Leinwand, auf der er in der letzten Nacht gemeinsam mit der Bestie gemalt hatte. Die Bestie hatte gewollt, dass auch Marie das Bild sah. Trotzdem hatte Gabriel es vorerst versteckt. Er wollte nicht, dass Marie entdeckte, wie der Doktor darauf mit düsterem Lächeln durch Schatten wanderte, die sich verzerrt und seltsam unvollständig umeinanderwanden, bis kaum noch eindeutige Formen zu erkennen waren. Das Porträt war beängstigend, es zeichnete ein verstörendes, ja gefährliches Bild des Arztes– verstörender als alles, was er je zuvor gemalt hatte. Und wenn Gabriel sich gestern in der Praxis nicht getäuscht hatte, dann zeigte es das wahre Gesicht des Arztes. Doch bevor er Marie davon erzählte, musste er sich ganz sicher sein. Er musste herausfinden, ob seine Vermutung zutraf, auch wenn er sie dafür schon wieder hintergehen musste. Aber Gabriel war nicht danach, sich noch einmal mit Marie zu streiten. Vielleicht konnte er die Sache regeln, ohne dass sie davon erfuhr.
Ein letztes Mal atmete er tief durch. Dann drückte er die Haustür auf.
Die schwarzhaarige Sprechstundenhilfe, die auch schon am Vortag hinter dem Empfangstresen gesessen hatte, hob den Kopf, als Gabriel eintrat. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.
» Oh, hallo. Du bist doch der Freund von Marie, stimmt’s?«
Gabriel gab sich alle Mühe, den giftig-grünen Schimmer zu ignorieren, der die Haut der jungen Frau überzog, und die dürre, rotschwarz gescheckte Schlange, die sich um ihren Hals wand, während sie sprach. Am Tag zuvor war ihm
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