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Als die schwarzen Feen kamen

Als die schwarzen Feen kamen

Titel: Als die schwarzen Feen kamen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Beer
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geholfen und er erinnerte sie doch so sehr an ihren Vater… Er hatte ihr nie einen Anlass gegeben, ihm zu misstrauen. Gabriel hingegen schien nicht einmal bereit zu sein, ihr auch nur im Geringsten zu vertrauen. Er schloss sie aus allem aus, was sie nicht direkt betraf. Gestern noch hatte er versprochen, gleich heute früh mit ihr zu reden– stattdessen war er heute Morgen einfach fortgegangen. Wie konnte er da erwarten, dass sie ihm einfach so Glauben schenkte? Mit brennenden Augen starrte Marie auf den kleinen Grabstein. Papa, dachte sie, kannst du mir denn nicht sagen, was ich tun soll?
    Aber die Stimme ihres Vaters schwieg noch immer. Nicht einmal der Wind rührte sich.
    Marie biss die Zähne zusammen. Allmählich wurde ihr kalt. Und wenn sie Gabriel nun zwang, mit ihr zu reden? Es musste doch einen Weg geben, ihn dazu zu bringen, endlich etwas von sich preiszugeben. Wenn er wollte, dass sie ihm vertraute, dann musste er ihr zuerst vertrauen! Seine Worte, es gäbe zu wenige Menschen, die ihn ertragen könnten, kamen ihr wieder in den Sinn. Und dass seine Eltern ihn fortgeschickt hätten. Marie schämte sich dafür, aber ein ganz klein wenig konnte sie seine Eltern verstehen. Vielleicht hatte er sich ihnen gegenüber ebenso zwiespältig verhalten? Gabriel war so widersprüchlich– so unglaublich gutherzig und großzügig, und zugleich so unzugänglich, dass es kaum auszuhalten war. Dabei war dies doch das Letzte, was Marie wollte: dass sie Gabriel nicht länger ertragen konnte! Doch bei der Vorstellung, ihm gegenüberzutreten, spürte sie bereits jetzt einen gewissen Widerwillen. Sie wollte nicht erleben, wie er weiterhin alle Versuche, zu ihm durchzudringen, abblockte.
    Mit einem Ruck stand Marie auf. Sie würde das nicht zulassen, beschloss sie und wusste plötzlich, was sie tun konnte. Sie würde sich Gabriels Bilder ansehen. Die Bilder, die er von der Obsidianstadt und den Feen gemalt hatte und die sie am Sonntag nicht hatte sehen wollen. Und auch alle anderen Bilder in seiner Wohnung. Wenn er malte, was nur er sehen konnte, dann waren diese Bilder die einzige Möglichkeit, wenigstens einen schwachen Eindruck davon zu bekommen, wie die Welt mit Gabriels Augen aussah. Vielleicht würden sie ihr etwas zeigen, was sie bisher nicht erkannt hatte.
    Ein letztes Mal beugte Marie sich herunter und legte sachte die Hand auf den Grabstein.
    » Danke, Papa«, flüsterte sie.
    Als sie den Friedhof verließ, rannte sie beinahe. Sie konnte es kaum noch erwarten, endlich zu sehen, wer Gabriel wirklich war.

Interludium: Metamorphose
    Es raschelte und wisperte in den Schatten. Die Nacht war hereingebrochen und Finsternis über die Obsidianstadt gefallen. In düsteren Fetzen trieb der Nebel durch die Straßen wie ein rußgeschwärztes Leichentuch.
    Die alte Kirche aber, nur einen Steinwurf vom ehemaligen Stadtrand entfernt, berührte er nicht. Das ehrwürdige Gewölbe aus glänzend schwarzem Vulkanglas erhob sich unangetastet inmitten der alles verschlingenden Nebelschwaden, umgeben von einer schützenden Aura aus bläulich weißem Feenlicht.
    Für gewöhnlich brachen die Feen nach Einbruch der Dunkelheit zu ihrer Reise durch den Körper von Prinzessin Lea auf. Heute aber verharrten sie in der Kirche. Das Flattern ihrer Flügel ließ die Mauern des Kirchenschiffs vibrieren und füllte die Luft über den verlassenen Bänken und dem Altar mit seinem Singen und Sirren. Der Schwarm bedeckte die Wände wie eine zweite Haut, die ständig in Bewegung schien, als würde sie atmen. Die Feen waren unruhig. Erwartungsvoll beobachteten sie das Herzstück ihrer Versammlung: Unter der Decke des Kirchenschiffs, dort wo die Kuppel am höchsten war, hing ein menschengroßer, feucht schimmernder Kokon, der sich im leichten Luftzug der tausend Flügel sanft hin und her wiegte. Heute Nacht war es so weit. Heute würde sich zeigen, ob sie genug Kraft gesammelt hatten, um den nächsten Schritt zu wagen.
    Stille lag über dem Gewölbe, nur untermalt vom erregten Summen der tonlosen Feenstimmen.
    Und dann, plötzlich, erschien mit einem wispernden Rascheln ein haarfeiner Riss in der Hülle des Kokons. Grellweißes Licht drang heraus und füllte das Gewölbe bis in den letzten Winkel. Ein Zischeln und Raunen ging durch den Schwarm der wartenden Feen.
    Der Riss vergrößerte sich rasch, schon klaffte ein handbreiter Spalt mit fransigen Rändern in der seidigen Hülle. Ein langer, bleicher Arm streckte sich hervor, knochig und dürr, mit sehnigen

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