Als die schwarzen Feen kamen
Augen.
Marie blieb stumm neben ihr sitzen und hielt ihre Hand fest, während die Atemzüge ihrer Mutter tief und gleichmäßig wurden. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Eine gefühlte Ewigkeit saß sie reglos da und versuchte vergeblich, ihre Gedanken zu ordnen. Schließlich stand sie vorsichtig auf und verließ das Krankenzimmer. Dass ihre Mutter wieder aufgewacht war, musste trotz allem ein Hoffnungszeichen sein, dachte sie entschlossen. Sie würde wieder ganz gesund werden– dafür würde Marie alles Erdenkliche tun. Alles konnte gut werden, wenn sie es nur schaffte, stark zu sein. Und vielleicht konnte sie so auch Gabriel ein wenig Mut machen.
Auf der Straße vor dem Krankenhaus blieb sie einige Augenblicke lang stehen und atmete tief die kalte Winterluft ein. Sie fühlte sich seltsam gelöst, traurig und mutig zugleich, und ihr war überhaupt nicht danach, in Gabriels Wohnung zurückzukehren. Sie wusste ja nicht, wann er wiederkommen würde. Und was sollte sie dort allein anfangen?
Kurz erwog sie, doch noch in die Schule zu gehen, aber bei der Vorstellung, ihren ehemaligen Freundinnen zu begegnen, krampfte sich ihr Magen zusammen. Sie hatte zwar noch nie in ihrem Leben die Schule geschwänzt, aber für heute würde sie sich krankmelden.
Langsam ging Marie die Straße entlang, ohne recht zu wissen, wohin sie eigentlich wollte. Sie brauchte einen Platz, an dem sie ungestört nachdenken konnte. Einen, der sie nicht mit seinen Wänden erdrückte. Marie vergrub die Hände tief in den Taschen ihrer Jacke. Sie könnte auf den Friedhof gehen, dachte sie plötzlich. Wie lange war es eigentlich her, dass sie zuletzt das Grab ihres Vaters besucht hatte? Entschlossen lenkte sie ihre Schritte Richtung S-Bahnhof. Auf dem Friedhof würde es ruhig sein. Und selbst wenn sie unerwartet in Tränen ausbrechen sollte, würde das dort niemandem komisch vorkommen.
Zwischen den verschneiten Bäumen und Sträuchern auf dem Altonaer Friedhof war es still und friedlich. Die Wege zwischen den Gräbern waren sauber geräumt und die meisten der Ruhestätten lagen unter einer dicken weißen Decke. Nur auf manchen brachten sogar jetzt im Winter frische Blumen ein paar Farbkleckse in das eintönige Grau und Weiß. Es tat Marie ein wenig leid, dass sie selbst keine Blumen mitgebracht hatte. Aber den Umweg über den Blumenladen hatte sie nicht machen wollen. Und sie glaubte fest, dass ihr Vater, falls er sie von dort, wo er jetzt war, sehen konnte, sich auch so über ihren Besuch freuen würde.
Vor dem winzigen Flecken gefrorener Erde, in dem die Urne mit seiner Asche beigesetzt war, blieb Marie stehen, hockte sich auf die Fersen und schlang die Arme um die Knie. Die Stille des Friedhofs tat ihren aufgewühlten Gedanken gut.
» Hallo, Papa. Wie geht es dir?«
Schweigen antwortete ihr, aber Marie war auch nicht hergekommen, weil sie ein Wunder erwartet hatte. Während sie auf das Grab starrte, kehrte unwillkürlich die Erinnerung an den vorangegangenen Tag zurück. An die Hypnosesitzung, vor allem aber an die kostbare kleine Erinnerungsperle, die sie in der Tiefe ihres Gedächtnisses wiedergefunden hatte. An die Stimme ihres Vaters, die sie gehört hatte. Sie hatte nicht mehr gewusst, wie sie klang, dachte Marie. Wie hatte sie so etwas Schönes vergessen können? Wenn sie sich stärker gegen das Vergessen gewehrt hätte, dann wäre die Obsidianstadt jetzt vielleicht immer noch der glückliche Ort, den sie und ihr Vater zusammen erschaffen hatten. Vielleicht würde dort dann immer noch die Sonne scheinen, und die Feen hätten niemals so viel Macht über die Stadt erlangen können. Je länger Marie darüber nachdachte, desto sicherer war sie, dass es so sein musste, und sie hatte das schreckliche Gefühl, ihren Vater verraten zu haben.
Wenn sie nur alles wiedergutmachen konnte, versprach sie ihm im Stillen, würde sie künftig besser auf die Stadt achtgeben. Sie wusste nur immer noch nicht, wie sie es anstellen sollte. Möglicherweise hätte Gabriel ihr helfen können– aber mit ihm hatte sie ja noch immer nicht gesprochen. Und seit dem Vorfall am gestrigen Abend sträubte sich etwas in Marie dagegen, ihm mehr von der Obsidianstadt zu erzählen.
Wieso hatte Gabriel bloß gemeint, Dr. Roth hätte sie angelogen? Selbst wenn es wirklich Gabriels Schattenkreatur gewesen war, die zu diesem Zeitpunkt aus ihm gesprochen hatte, nicht er selbst– Marie konnte und wollte es nicht glauben. Der Therapeut hatte ihr schon so oft
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