Als die schwarzen Feen kamen
winzigen Tropfen. Der Anblick war so schön, so friedlich, und die Wärme tat ihr so gut, dass Marie am liebsten ewig so stehen geblieben wäre. Selbst das unangenehme Zerren aus der Obsidianstadt schien von der Wand aus schillerndem Wasser abzuprallen. Erst als die Sonne sich hinter den Fensterrahmen zurückzog und das Licht in den Wassertröpfchen längst erloschen war, drehte Marie den Hahn ab.
Außerhalb der Duschkabine fühlte sich die Luft kalt auf ihrer feuchten Haut an. Schnell griff sie nach ihrem Handtuch und rubbelte ihren Körper und ihre Haare trocken, bevor sie in frische Kleider schlüpfte. Dann öffnete sie das schräge Fenster einen Spaltbreit, um die Feuchtigkeit hinauszulassen, und wühlte in ihrem Rucksack nach ihrer Bürste. Suchend sah sie sich um. Schon bei ihrem ersten Besuch in Gabriels Wohnung war ihr aufgefallen, dass es nicht einmal im Badezimmer einen Spiegel gab. Der Platz über dem Waschbecken allerdings, wo man für gewöhnlich einen Spiegel erwartet hätte, war so leer, dass das vermutlich Absicht war. Bestimmt hatte Gabriel ihn von der Wand genommen, um die Kreatur in seinem Schatten nicht sehen zu müssen. Marie verstand das, auch wenn sie selbst die Bestie inzwischen viel weniger furchterregend fand, als Gabriel es offensichtlich tat. Trotzdem hätte sie nur zu gern einmal einen Blick auf ihr eigenes Gesicht geworfen. Vielleicht war der Spiegel noch irgendwo? Sie sah sich ein weiteres Mal um und tatsächlich– im schmalen Spalt zwischen Duschkabine und Wand entdeckte sie etwas, das wie eine rechteckige Glasscheibe aussah. Marie legte ihre Bürste auf den Toilettendeckel, zog den Spiegel aus der Ecke hervor und lehnte ihn aufrecht an die Wand hinter dem Waschbecken. Gabriel würde sicher nichts dagegen haben, wenn sie ihn kurz benutzte und dann wieder an seinen Platz stellte.
Die kalte Luft vom Fenster trieb an der beschlagenen Oberfläche vorbei und ließ kondensiertes Wasser in kleinen Tropfen daran hinabrinnen. Mit der Hand wischte Marie ein Fenster in die matte Schicht, die sich auf das Glas gelegt hatte. Ein blasses, leicht verschwommenes Gesicht mit tiefen Ringen unter den blutunterlaufenen Augen starrte ihr entgegen. Marie fröstelte. Frau Jesse hatte recht gehabt am Montag, dachte sie. Sie sah aus wie ein Zombie. Vermutlich hatte sie Glück, dass Gabriel an den Anblick von Schreckgestalten gewöhnt war, sonst wäre er sicher vor ihr davongelaufen.
In diesem Moment blinzelte ihr Spiegelbild. Marie kniff verblüfft die Lider zusammen und riss sie wieder auf. Hatte sie sich das eingebildet? Nein– da war es wieder. Beide Augen der Marie im Spiegel schlossen sich für den Bruchteil einer Sekunde. Aber wie war das möglich? Marie hob die Hand, um ihr Gesicht zu betasten.
Das Spiegelbild folgte ihrer Bewegung nicht. Stattdessen erschien ein entgeisterter Ausdruck auf dem Gesicht der anderen Marie. Gänsehaut kroch über Maries Nacken– da öffnete ihr Spiegelbild den Mund.
» Wer bist du?« Die Stimme war leise und untermalt von einem schwachen Echo, als würde sie durch einen großen, leeren Raum herüberschallen. Aber es war unverkennbar ihre eigene.
Marie schluckte und legte ihre Hand an das Glas. Was ging hier vor? Fast erwartete sie, dass ihre Finger durch die Scheibe hindurchgleiten würden, aber sie war kühl und glatt und feucht– genau wie ein nasser Badezimmerspiegel es sein sollte. Ihr war plötzlich schwindelig. » Ich bin Marie.« Sie brachte die Worte kaum heraus. » Aber wer bist du?«
» Ich bin Lea.« Die Stimme des anderen Mädchens war zu einem Flüstern herabgesunken. Ein Begreifen, das Marie nicht verstand, malte sich auf ihrem Gesicht. » Bist du… in der anderen Welt?«
Lea. Marie spürte, wie ihr das Atmen schwerfiel. Lea? Ihr Herz begann zu schmerzen. Lea– Lea Marie. Ja, sie erinnerte sich. Das war Teil ihrer Geschichten gewesen, damals, mit ihrem Vater. Für ihn und für die Menschen in der Obsidianstadt war Marie nicht Marie, sondern Lea. Niemand außer ihnen wusste davon.
» Du bist ich«, flüsterte Marie fassungslos.
Lea runzelte die Stirn. Misstrauen schimmerte in den hellblauen Augen. » Wie meinst du das?«
Hastig wischte Marie mit dem Ärmel ihres Pullovers über den Spiegel. Hinter dem Mädchen auf der anderen Seite sah sie die schattenhaften Umrisse eines Zimmers im Dämmerlicht. Ein riesiges Bett. Ein Nachttisch, mit einer Karaffe und einem Glas darauf. Ein Schrank. Eine Kommode. Und ein Fenster, hinter dem der Himmel sich
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