Als die schwarzen Feen kamen
entfalteten sich dann zu riesigen, schillernden Flügeln, während sich ihr Körper bereits zu dem einer schlanken Frauengestalt verzerrte.
Gabriel riss seinen Blick von dem schrecklichen Schauspiel dieser Verwandlung los. Der Weg durch den Torbogen war offen! Das war seine Chance! Er rannte los. Hinter sich hörte er das Rauschen, mit dem die Flügel die Luft aufwühlten. Eisiger Wind zerrte an seinen Haaren und seinem Mantel, aber er sah sich nicht um. Er rannte, so schnell wie er noch nie in seinem Leben gerannt war. Die Kälte stach ihm in die Lungen, bis er das Gefühl hatte, sie würden zerreißen. In seinen Ohren sauste es und sein Mund wurde trocken. Mehrmals schlitterte er auf gefrorenen Inseln aus Schnee und wäre beinahe gestürzt, doch der Wind und das Rauschen der Flügel hinter ihm trieben ihn weiter. Die Fee hatte die Verfolgung aufgenommen, und er hatte keine Chance gegen sie, nicht in dieser Gestalt. Nicht, wenn allein ihr Anblick ihn lähmte, bis er nicht einen Finger mehr rühren konnte. Nicht, wenn sie seinen Schatten verwunden konnte, der vollkommen wehrlos gegen sie war. Wenn sie ihn erwischte– was würde sie dann mit ihm tun?
Das Café Orca tauchte am Ende der Straße vor ihm auf, und Gabriel mobilisierte seine letzten Kräfte. Bei aller neu gewonnenen Macht, die diese Fee besaß, dorthin würde sie ihm sicher nicht folgen. Nicht in einen Raum, der überfüllt war mit Menschen und ihren Schatten, die sie verabscheuten. Das würde sie nicht wagen. Noch nicht…
Mit einem Ruck stieß er die Tür auf und stürzte in den warmen, hell erleuchteten Raum.
Stimmengewirr und das Klappern von Geschirr, vermischt mit dem Zischen und Brodeln der Kaffeemaschine, umfingen ihn. Gabriel schlug die Tür hinter sich zu.
Keuchend blieb er wenige Schritte hinter der Schwelle stehen. Draußen hörte er die Fee wütend kreischen und heulen. Aber sie kam nicht herein, genau wie er gehofft hatte. Er war in Sicherheit– für den Augenblick. Noch nie war Gabriel so froh über die unzähligen Augen der Schattenkreaturen gewesen, die hinter den Menschen hervorblinzelten, ihn anstarrten und sich nervös bewegten. Ihnen war, im Gegensatz zu ihren Wirten, nicht entgangen, dass dort draußen etwas Seltsames, etwas Gefährliches vor sich ging. Sie sahen die klaffenden Wunden, die die Klauen der Fee Gabriels Bestie geschlagen hatten. Dieses Mal, dieses eine Mal, waren sie auf seiner Seite. Auch wenn sie ebenso machtlos waren wie er selbst.
Gabriel zwang seine Schritte zur Ruhe und schlängelte sich zwischen den voll besetzten Tischen hindurch zur Theke. Joe hob verwundert die Brauen, als er ihn sah. Sogar seine für gewöhnlich eher scheue Skelettkatze hatte sich aus seinem Schatten gelöst und fixierte Gabriel aus funkelnd grünen Augen. » Junge, was ist denn mit dir passiert? Hast du ’nen Geist gesehen?«
Gabriel schaffte es nur mit Mühe, zu lächeln. Das Kreischen der Fee rüttelte an den Fensterscheiben, und er konnte ihr Licht auf der Straße leuchten sehen. Das Café füllte sich mehr und mehr mit den aufgeregten Lauten der Schatten und übertönte die friedliche Geräuschkulisse. » Ist kalt draußen. Ich dachte, wenn ich renne, wird mir vielleicht warm.«
Joe lachte sein polterndes Lachen. » Musst ja auch wahnsinnig sein, dich bei dem Wetter draußen rumzutreiben. Willst du einen Tee?«
An jedem anderen Tag hätte Gabriel sich über die Einladung gefreut. Heute drängte es ihn nur, in seine Wohnung zurückzukommen. Marie zu warnen. » Vielleicht später«, sagte er und bemühte sich, seine Stimme nicht zu angespannt klingen zu lassen. » Jetzt muss ich erst mal meine Socken wechseln.«
Joe klopfte ihm grinsend auf die Schulter. » Sehr vernünftig. Na, dann mach, dass du wegkommst.« Er trat zur Seite, und Gabriel schob sich hastig an ihm vorbei durch die Stahltür.
Die muffige Dunkelheit des Treppenhauses empfing ihn. Keine Spur von süßlichem Feengestank. Gabriel atmete auf. Hierher würden sie ihm nicht folgen. Dies war sein Reich. Und so schnell es seine von der Flucht noch immer wackeligen Beine zuließen, hastete er die knarrenden Stufen hinauf.
Sechsundzwanzigstes Kapitel: Der Weg durch das Tor
Als das heiße Wasser endlich über ihren Kopf und ihre Schultern floss, atmete Marie erleichtert auf, obwohl die Schürf- und Schnittwunden im ersten Augenblick brannten wie Feuer. Weißer Dampf umhüllte sie wie eine Wolke, und die letzten Strahlen der Abendsonne glitzerten regenbogenfarben auf den
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