Als die schwarzen Feen kamen
müssen. Sogar hier auf der Straße spürte er, wie zahllose funkelnde Augenpaare ihn und Marie anstarrten, ungehindert der Barrieren zwischen ihnen und der Menschenwelt. Die Schatten waren unruhig. Neugierig. Sein eigenes Biest rüttelte an den Gitterstäben der Zelle, in die er es gesperrt hatte. Es wollte das Mädchen berühren, den Kopf durch das Loch in die andere Realität stecken und sehen, was dort vor sich ging. Herausfinden, wie diese geflügelten Bestien es geschafft hatten, einen Durchgang zu finden und sich von dem Band zu trennen, das sie an Marie fesselte. Allein der Gedanke daran ließ nacktes Entsetzen über seine Haut kriechen. Aber immerhin war es sein Vorschlag gewesen, sich hier zu treffen. Also musste er auch die Verantwortung dafür übernehmen, wenn nichts daraus wurde, wo sie nun den weiten Weg auf sich genommen hatte. Und er musste es endlich schaffen, sich einigermaßennormal zu verhalten– denn wie sollte er Marie sonst beruhigen? Sie sollten auf jeden Fall an einen Ort, an dem sich weniger Menschen aufhielten. Wo es ruhiger war als hier.
» Na ja… es ist voll da drin. Und laut. Das habe ich eben nicht bedacht. Ich fürchte, um diese Zeit werden wir nirgendwo einen ruhigen Platz finden.« Gabriel kratzte sich am Kopf und lächelte unsicher. » Vielleicht gehen wir stattdessen noch mal in den Park? Da ist jetzt sicher nichts los.«
Marie schob ihre Hände noch tiefer in die Jackentaschen und vergrub ihr Gesicht bis zur Nase in ihrem dicken Schal. » Okay, wenn du meinst…«, murmelte sie.
Aber Gabriel hatte sowohl ihr Frösteln als auch ihren Blick auf seine Füße bemerkt. Unwillkürlich bewegte er die Zehen, die vor Kälte schon ganz taub waren. Natürlich, wirklich passend angezogen war er nicht für einen Winterspaziergang. Der Frost drang durch die dünnen Sohlen und den Stoff seiner Chucks. Es grenzte an ein Wunder, dass er sich am Vortag nicht verkühlt hatte, und auch er hätte dieses Gespräch lieber irgendwo geführt, wo es warm war, das musste er zugeben. Ein Gedanke kam ihm, den er gleich wieder verwerfen wollte. Andererseits– warum eigentlich nicht? Wenn es Marie recht war… Er räusperte sich.
» Wir können auch zu mir nach Hause gehen, wenn du möchtest.«
Für einen kurzen Moment weiteten sich ihre Augen, und Gabriel konnte fast so etwas wie Furcht darin sehen. » Ja, also wenn… wenn das deinen Eltern nichts ausmacht…«
Seinen Eltern? Gabriel hob die Brauen. Was ging es denn seine Eltern an, dachte er verwundert, wen er mit in seine Wohnung nahm? Selbst wenn er noch bei ihnen gelebt hätte, wäre ihm das egal gewesen. Dann aber begriff er, was sie beunruhigte. Marie wusste ja nicht, dass er allein wohnte. Und sie wollte in ihrer derzeitigen Verfassung lieber keinen fremden Leuten begegnen, schon gar nicht irgendwelchen Eltern. Verständlicherweise.
Gabriel lachte leise und, wie er hoffte, beruhigend. » Meine Eltern sind in Blankenese. Die merken das gar nicht, keine Sorge.«
» Ach so, ja… dann…« Marie lächelte, aber es sah ein wenig gequält aus. » Gern.«
In diesem Augenblick wirkte sie so hilflos und verloren, dass Gabriel sie trotz aller Tore und Schatten am liebsten in den Arm genommen hätte. Aber er war sich nicht sicher, ob sie in ihrem Zustand überhaupt berührt werden wollte. Also ließ er es und erwiderte nur ihr Lächeln. » Dann komm. Ist auch nicht weit.«
Marie nickte mit angespanntem Gesicht und folgte ihm die Straße hinunter. Während sie mit hochgezogenen Schultern neben ihm herlief, beobachtete Gabriel sie aus dem Augenwinkel. Das Loch in ihrem Schatten war immer noch da und zog seinen Blick wie magisch an. Er konnte es einfach nicht leugnen– es machte ihm schreckliche Angst.
Er schüttelte sich innerlich und runzelte ärgerlich die Stirn. Angst. Darüber musste er hinwegkommen. Angst war ein Gefühl, das er nie wieder zulassen durfte. Er hatte zu hart darum gekämpft, sie zu überwinden, um jetzt nachzugeben. Er war stark genug, er würde es auch diesmal schaffen. Für dieses Mädchen, das so anders war als alle anderen Menschen, denen er je begegnet war. Sie hatte viel mehr Grund, sich zu fürchten, als er, und sie brauchte jetzt jemanden, der für sie da war. Allerdings würde er wohl nicht mehr darum herumkommen, sie noch etwas weiter in sein Geheimnis einzuweihen. Sie würde die erste seit vielen Jahren sein, die erfuhr, wie die Welt in Gabriels Augen aussah. Und mit ein wenig Glück wäre sie womöglich die
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