Als die schwarzen Feen kamen
allererste Person in seinem ganzen Leben, die ihn dafür nicht verdammte. Und das allein, dachte er, war Grund genug, sie nicht zu enttäuschen.
Zehntes Kapitel: Trost
Marie vergrub die eiskalte Nase noch etwas tiefer in ihrem Schal und starrte auf Gabriels Schuhe, die knirschend durch den Matsch aus Salz, Rollsplit und Schnee stapften. Den Blick zu heben traute sie sich kaum, weil sie befürchtete, dass Gabriel zufällig genau in diesem Moment zu ihr herübersehen könnte. Sie hatte ein merkwürdiges Gefühl dabei, ihn nach Hause zu begleiten. Sie kannte ihn ja gar nicht. Und sie wurde auch den leisen Gedanken nicht los, dass es aus eben diesem Grund vielleicht doch leichtsinnig gewesen war, ihn anzurufen und sich mit ihm zu treffen, ohne dass irgendwer wusste, wo sie war. Ganz abgesehen davon, dass ihre Mutter nun allein zu Hause war– ohne jemanden, der auf sie achtgab. Marie fühlte sich schrecklich deswegen. Feige und schuldig. Aber sie musste doch mit Gabriel sprechen! Wenn es einen Menschen gab, der ihrer Mutter helfen konnte, dann er… vermutlich. Er hatte so einen seltsamen Gesichtsausdruck gehabt, als sie sich vor dem Mondscheincafé gegenüberstanden. Fast, als würde er sich vor ihr fürchten. Was hatte er nur gesehen? Nichts Gutes, so viel stand wohl fest. Andererseits hatte Marie, seit sie ihn dort auf der Straße hatte warten sehen, das absurde Gefühl, dass jetzt alles gut würde. Dass kein Schatten ihr zu nahe kommen konnte, solange Gabriel in ihrer Nähe war. Überhaupt war alles besser, als noch länger mit ihrer Angst allein zu sein. Und wenn sie so darüber nachdachte, war sie auch ganz froh, dass sie nicht in einem überfüllten Café sitzen würden.
Erst als Gabriel schließlich stehen blieb, sah Marie wieder auf– und holte überrascht Luft. Also doch ein Café? Hatte sie irgendetwas falsch verstanden? Der Laden machte einen gemütlichen Eindruck, wirkte aber nicht weniger voll als das Mondscheincafé. Glaubte er wirklich, hier einen Platz zu finden?
» Da wären wir also.« Gabriel drehte sich zu Marie um und deutete auf das kleine Giebelfenster weit über ihnen. Sein Gesicht war noch immer ein wenig angespannt, aber Marie sah, dass er sich Mühe gab, es nicht zu offen zu zeigen. » Da oben wohne ich. Normalerweise nehme ich die Feuertreppe hinten im Hof. Aber die ist vereist, also gehen wir besser durchs Café.«
Bevor Marie ihrer Überraschung Luft machen konnte, öffnete er die Tür und trat zur Seite, um sie vorbeizulassen. Ein Schwall warmer Luft, vermischt mit dem Duft von Kaffee, Schokolade und frisch gebackenen Waffeln, erfüllt vom Murmeln zahlreicher Gespräche, schlug ihr entgegen. Das Café mit seinen Möbeln aus dunklem Holz im Kolonialstil war in gedämpftes Licht getaucht, das die erdigen Farben der übrigen Einrichtung sanft leuchten ließ. Marie sah sich mit großen Augen um. Warum hatte sie bisher nicht gewusst, dass es dieses Café gab? Ein Geheimtipp schien es nicht gerade zu sein, wenn man sich ansah, wie voll es war… Und hier wohnte Gabriel also? Gehörte das Café vielleicht seinen Eltern? Oder…?
In diesem Moment hob der breitschultrige Mann hinter der Theke grüßend die Hand. Gabriel berührte Marie leicht am Arm.
» Das ist mein Vermieter. Keine Sorge, du musst nicht mit ihm reden. Komm.«
Vermieter? Marie warf Gabriel einen überraschten Blick zu. Seine Eltern seien in Blankenese, hatte er gesagt. Waren sie dort nicht nur vorübergehend, wie Marie ganz selbstverständlich angenommen hatte? Lebten sie dort? Und Gabriel… hieß das etwa, dass er allein wohnte? Aber wieso sollte jemand in seinem Alter von zu Hause ausziehen? Die Gedanken schwirrten haltlos in Maries Kopf umher. Zögernd folgte sie Gabriel zwischen den Tischen hindurch hinter den Tresen. Und war es wirklich so offensichtlich, dass sie heute mit niemandem sprechen wollte? Vermutlich. Sie hatte zwar versucht, die gröbsten Spuren ihrer Sorgen zu verstecken, bevor sie die Wohnung verlassen hatte, aber der Spiegel hatte ihr unbarmherzig gezeigt, dass sie trotz aller Mühen völlig fertig aussah. Fertig mit den Nerven, mit der Welt, und vor allem mit sich selbst. Und genau so fühlte sie sich auch. Sie hatte allerdings gehofft, für die geplatzten Äderchen in ihren Augen und die roten Stressflecken auf ihrer Haut könnte ebenso gu t die Kälte draußen verantwortlich gemacht werden.
» Hey Joe.« Gabriel nickte dem großgewachsenen Mann kurz zu. Der erwiderte den Gruß ebenfalls mit einem
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