Als die schwarzen Feen kamen
Staffelei selbst war leer. Und doch war Marie schon nach einem kurzen Blick klar, dass die Wohnung vor allem deswegen so karg eingerichtet war, damit mehr Platz für Gabriels Bilder blieb.
Denn die Bilder waren überall.
Sie lehnten am Sofa, am Schornstein und der Wand hinter der Staffelei, zum größten Teil umgedreht oder mit Laken verdeckt, als hätte Gabriel keine Lust mehr gehabt, sie anzusehen. Sie stapelten sich unter den schrägen Wänden und unter dem Sofa; Bilder auf Leinwand, vergilbte und halb auseinanderfallende Skizzenbücher und Malblöcke, dicke Mappen voll loser Blätter und farbiger Kartonagen. Noch nie in ihrem Leben hatte Marie eine solche Wohnung gesehen– und noch nie eine so gewaltige Sammlung von Bildern. So oft sie sich auch umsah, jedes Mal entdeckte sie einen neuen Stapel, eine neue Kiste mit Blöcken und Heften. Und erst, als sie Gabriels eindringlichen Blick spürte, wurde ihr bewusst, dass sie schon eine ganze Weile sprachlos in der offenen Tür gestanden haben musste.
» Entschuldige.« Sie spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen, und schloss schnell die Tür, um ihre Verlegenheit zu überspielen. » Ich hatte nicht gedacht, dass…« Sie stockte, weil sie selbst nicht genau wusste, was sie eigentlich gedacht hatte. Aber Gabriel schien sich nicht daran zu stören. Er betrachtete sie nur weiter mit ernstem Gesicht. Unsicher machte sie noch ein paar Schritte in den Raum hinein.
» Setz dich doch schon mal.« Gabriel deutete auf das Sofa. » Ich mache uns einen Tee.«
Zögernd streifte Marie ihre Schuhe ab und folgte seiner Aufforderung. Von ihrem neuen Platz aus entdeckte sie ein weiteres Bild, das ihr gegenüber aufrecht gegen die Dachschräge gelehnt stand, als hätte Gabriel es in Ruhe betrachten wollen. Doch auch dieses Bild war umgedreht worden, sodass sie das Motiv nicht erkennen konnte.
Marie zog die Beine an und drückte sich tief in das weiche Polster, während sie auf das leise Zischen des Gasherds lauschte und auf das Klappern des Kessels, in dem Gabriel Wasser aufsetzte. Nicht mal einen Wasserkocher hatte er. Maries Gefühl, sich in einer anderen Welt zu befinden, seit sie die Stahltür hinter der Theke im Café durchschritten hatte, wurde von Sekunde zu Sekunde stärker.
Gabriel warf seinen Mantel auf das provisorische Bett und zerrte eine Wolldecke zwischen Kissen und Federbett hervor. Dann setzte er sich zu Marie aufs Sofa und warf ihr ein Ende der Decke zu, während er selbst die Füße unter das andere Ende schob. » Hier, damit du nicht frierst. Ich hab die Heizung schon angestellt, aber es dauert immer ein bisschen, bis es hier drin warm wird.«
Dankbar zog Marie die Decke über ihre Waden und spürte kurz darauf, wie das Blut kribbelnd durch ihre Adern strömte.
» Also.« Gabriel legte den Ellbogen auf die Rückenlehne des Sofas und stützte seinen Kopf gegen die Handfläche, während er Marie nachdenklich musterte. » Dann erzähl mal.«
Marie atmete tief durch. Er schien ihr wegen ihrer Frage auf der Treppe nicht böse zu sein, aber es kostete sie dennoch große Mühe, seinem Blick standzuhalten. Die unterschwellige Furcht, die sie noch auf der Straße vor dem Mondscheincafé in seinem Gesicht zu sehen geglaubt hatte, war verschwunden und ernsthaftem, besorgtem Interesse gewichen. So wie er sie jetzt ansah, war es Marie unmöglich, noch länger zu befürchten, dass er sich über sie lustig machen wollte. Sie konnte allerdings auch nicht behaupten, dass sie sich wohler in ihrer Haut fühlte, weil es nun jemanden gab, der diesen Wahnsinn, der plötzlich über sie hereingebrochen war, für reine Wirklichkeit hielt– für eine gefährliche Wirklichkeit noch dazu. Im Gegenteil. Aber sie war es letztendlich gewesen, die ihn angerufen und um einen friedlichen Sonntagnachmittag gebracht hatte. Also war sie es ihm wohl schuldig, dass sie ihm zumindest ein paar Einzelheiten erzählte.
Nervös wickelte sich Marie eine Haarsträhne um den Finger. » Sie… meine Mutter… sie will nicht aufstehen«, begann sie und bemerkte erschrocken, wie wackelig ihre Stimme klang. Sie räusperte sich mehrmals, bevor sie weitersprach, aber es half nicht viel. Jedes einzelne Wort schien in kleine Stücke zu zerbrechen, sobald es ihren Mund verlassen hatte. » Sie sagt, sie fühlt sich schwer. Und sie redet auch nicht. Also sie redet schon, aber nicht mit mir. Sie starrt bloß an die Wand und murmelt vor sich hin. Und… sie weint.« Marie schluckte. Ein dicker Klumpen bildete
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