Als die schwarzen Feen kamen
sich in ihrer Kehle, als sie an Karin dachte, die apathisch in ihrem Bett lag. Wie es ihr jetzt wohl ging? Hatte sie überhaupt bemerkt, dass Marie gegangen war? » Das macht sie sonst nie. Nicht, wenn ich es sehen kann. Und wenn ich sie ansehe, dann… ist es, als ob Schatten auf ihrer Haut sind. Also, Schatten, ohne dass da Licht wäre, verstehst du?« Verzweifelt suchte sie nach Worten, um zu beschreiben, was sie an dem Anblick so erschreckt hatte. » Sie dürften gar nicht da sein.«
Es vergingen etliche Sekunden, bis Gabriel antwortete. Im Hintergrund begann das Teewasser zu brodeln und der Kühlschrank unter der Spüle brummte leise. Draußen vor dem Fenster hatte es wieder zu schneien begonnen.
Endlich nickte Gabriel langsam. » Ich verstehe.« Er strich sich die Haare aus der Stirn. » Und du glaubst, es hat mit diesen geflügelten Wesen zu tun.«
» Es sind Feen.«
Die Worte brachen aus Marie hervor, noch ehe er ganz ausgesprochen hatte. Erschrocken über sich selbst sah sie Gabriel an. Doch der schien ihr ihren groben Tonfall nicht übel zu nehmen. Er hob nur interessiert die Brauen. » Feen?«
» Schwarze Feen.« Marie schluckte. Jetzt war es sowieso egal. Jetzt konnte sie auch gleich alles sagen, was sie dachte. Absurd genug war die Situation sowieso schon, da konnte sie es wohl kaum noch schlimmer machen. » Ich habe als Kind oft von ihnen geträumt. Ich glaube, sie schlüpfen aus bösen Gedanken.«
Gabriel sah sie nachdenklich an. Das Braun seiner Augen wirkte im trüben Licht der Papierlampe dunkel, fast schwarz. » Und jetzt träumst du wieder von ihnen.«
Das war eine Feststellung, erkannte Marie. Keine Frage. Er brauchte nicht zu fragen, weil er es wusste. Sie nickte schwach. Sie hingegen wusste gar nichts, dachte sie frustriert. Dabei waren es doch ihre finsteren Gedanken, die dieses Unglück überhaupt erst verursacht hatten– oder?
» Woher weißt du das alles?« Sie hatte befürchtet, dass sie vor lauter Angst und Erschöpfung aggressiv klingen würde. Doch zu ihrer Erleichterung tat sie es nicht. Es war einfach nur ein dünnes, verängstigtes Stimmchen, das aus ihrer Kehle kam. Nichts, was Gabriel unbeabsichtigt verletzen konnte, und darüber war Marie froh, obwohl es sie bloßstellte. Sie hatte nie schwach oder schutzbedürftig wirken wollen. Aber noch weniger wollte sie im Augenblick riskieren, den einzigen Menschen zu vertreiben, der bereit war, ihr zuzuhören.
Der Teekessel pfiff, und Gabriel stand auf, um den Tee aufzugießen. Dann brachte er die Kanne, ein Stövchen und zwei Tassen zum Sofa hinüber und baute alles auf dem Boden auf, bevor er seine Füße wieder zu Maries unter die Wolldecke steckte. Seine Finger spielten unruhig mit dem Deckensaum, und für einen Moment hatte Marie das Gefühl, dass er es vermied, sie direkt anzusehen. Endlich hob er den Blick. Doch seine Augen waren noch immer dunkel und sein Lächeln wirkte gequält.
» Die Frage habe ich mir selbst schon oft gestellt. Aber die traurige Wahrheit ist, ich habe keine Ahnung.« Er schüttelte leicht den Kopf. » Ich weiß nicht, ob ich es so erklären kann, dass es irgendwie verständlich klingt und nicht bloß vollkommen verrückt, aber…« Er hielt erneut inne und rang ganz offensichtlich nach Worten. » Jeder Mensch hat einen Schatten, das ist kein Geheimnis. Aber für mich ist da noch etwas anderes. Etwas, das sich in der Dunkelheit versteckt. Und das sehe ich, solange ich mich erinnern kann«, fuhr er endlich fort. » Ich sehe die Ängste der Menschen, sehe die Schattenwelten, in denen ihre Traurigkeit wohnt, ihre Angst und ihre Wut. So wie jeder Mensch anders ist, sieht auch jeder ihrer Schatten für mich anders aus. Jeder hat seine eigenen Ungeheuer, seine eigene geheime Welt, seine eigene Dunkelheit. Orte und Wesen, die so unheimlich sind, dass man es sich kaum vorstellen kann. Nur… normalerweise bleiben sie im Schatten, verstehst du? Sie vermischen sich nicht mit unserer Realität. Ich kann sie sehen, aber nicht fühlen. Sie berühren uns nicht. Außer bei dir… bei dir ist es anders.«
» Anders?« Marie spürte ihr Herz schneller schlagen. Ängste, Trauer, Wut… und eine eigene Welt in ihrem Schatten. Konnte das alles Wirklichkeit sein? Vor wenigen Tagen noch hätte sie darüber gelacht.
» Bei dir bestehen die Schatten aus geflügelten Wesen, den Feen. Vor ein paar Tagen fiel mir auf, dass sie auf einmal ganz nah waren.« Auch Gabriels Stimme klang nun seltsam belegt. » Näher als alle
Weitere Kostenlose Bücher