Als die Welt zum Stillstand kam
Jennas Tagebuch:
15. Januar 2025
Felix ist aus seiner monatelangen Depression aufgetaucht. Aber nur, um eine Entscheidung zu treffen, gegen die ich Sturm laufe, seit er sie mir heute früh mitgeteilt hat. Vergeblich. Er ist fest entschlossen, sich »Tore ohne Grenzen« anschließen.
Natürlich ist es eine gute Sache, dafür zu kämpfen, dass alle Länder ans Tornetz angeschlossen werden. Auch die, in denen Diktatoren das bislang noch erfolgreich verhindern. Aber es ist auch einer der gefährlichsten Jobs, die es in dieser neuen Zeit gibt. Jeden Tag sterben Mitglieder von »Tore ohne Grenzen«, weil sie – völlig auf sich gestellt, ohne Rückendeckung und ohne ein rettendes Tor in der Nähe – in Gebiete vordringen, in denen allzu oft die Truppen der Machthaber schon mit Gewehren auf sie warten.
Ist es egoistisch von mir, dass ich meinen Mann nicht so sterben sehen will? Und dass ich möchte, dass Celie ihren Vater behält?
Irland, Mobilen-Kommune
»Im Zusammenhang mit den Unregelmäßigkeiten bei der Zuteilung der Nahrungsmittelrationen ist heute Morgen Stadtrat Paki Adam verhaftet worden. Adam bestreitet sämtliche Vorwürfe. – Die Auswertung der Spuren vom Fundort der vier Leichen und Hinweise aus der Bevölkerung haben neue Erkenntnisse gebracht. Offenbar stehen die Morde in Zusammenhang mit einer Fehde zwischen zwei Gangs, die aus der Gegend von Dublin stammen. Ein sechzehn- und ein siebzehnjähriges Mitglied der gegnerischen Gang wurden bereits festgenommen. – Bürgermeister Chambers hat für 16 Uhr eine Grundsatzerklärung zur Sicherheitspolitik angekündigt und für heute Abend eine Sondersitzung des Rates einberufen.«
Olle sah aus, als hätte er ewig nicht geschlafen, als er bei Celie klopfte.
»Hast du das gehört?« Sie deutete auf ihre Screen.
Olle ließ sich schwer auf ihr Bett fallen. »Mir graust’s jetzt schon vor seiner Rede«, sagte er mit geschlossenen Augen.
Celie reichte ihm eine Tasse Pfefferminztee. »Und, hast du was rausgefunden?«
Olle richtete sich auf. »Ja und nein.«
Wie es aussah, gab es auf den internen Rechnern durchaus eine Menge Informationen über alle möglichen Bewohner der Kommune. Nichts Offizielles, aber jeder Bewohner der Stadt hatte früher nach Anmeldung über die Rechner ins Internet gehen können. Und viele hatten das unter anderem dazu genutzt, sich über ihre Nachbarn kundig zu machen. Natürlich war nur das auf den Servern geblieben, was gespeichert worden war, aber das war schon eine ganze Menge.
»Sogar über mich habe ich was gefunden«, sagte Olle unbehaglich. »Aber mit einer guten Bilderkennung ist das bei mir auch nicht so schwer.« Er fasste sich in die blonden Dreadlocks.
Celie atmete tief durch.
»Über dich stand da auch so einiges.« Er grinste. »Also, über Dawn. Erstaunlich viel, mehr als bei den meisten. Wie es aussieht, hat Dawn absolut nichts zu verbergen.«
Celie räusperte sich. Olle wusste genau, dass sie nicht Dawn war. Schließlich hatte er mitbekommen, wie sie mit Pierre über ihre falsche Identität gesprochen hatte.
»Danke«, sagte sie.
»Nichts zu danken. Aber jetzt zu unserem Bürgermeister.« Er runzelte die Stirn. »Jason Chambers existiert erst seit dem 14. April 2029. Das ist der Tag, an dem er hier in der Kommune angekommen ist. Über seine Vergangenheit gibt es außer einem vermutlich falschen Geburtsdatum, dem 21. Mai 2011, nichts. Gar nichts. Keine Daten, keine Bilder, keine Fotos. Das Einzige, was ich habe, ist das hier.«
Er holte drei Fotos auf sein PaintPad. Als Mitarbeiter der Computerzentrale war er einer der wenigen, die noch einen dieser »Energiefresser« bei sich führen durften.
»Ich hab aus lauter Verzweiflung am Ende eine spezielle Bilderkennung benutzt, die mir ein Freund aus Taiwan vor einer Weile geschickt hat. Total packy, das Ding, aber auch extrem fehleranfällig. Wollte es immer mal überarbeiten, aber … Du weißt schon. Jedenfalls hat mir dieses Programm als Analogie zu Jasons heutigem Erscheinungsbild diese drei Fotos ausgespuckt.«
Olle deutete auf das erste. Es zeigte einen dicken Jungen mit Brille von vielleicht dreizehn Jahren, der stolz vor einer riesigen Urkunde stand, die er offenbar bei einem Wissenschaftswettbewerb bekommen hatte.
»Der sieht überhaupt nicht aus wie Jason«, sagte Celie. »Und das Alter stimmt auch nicht: Das Foto ist von 2016.« Sie deutete auf das Datum auf der Urkunde.
»Die anderen sind leider auch nicht besser«, sagte Olle.
Celie nickte.
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