Als die Welt zum Stillstand kam
Der junge Mann im Rollstuhl auf dem Gipfel des Kilimandscharo war viel zu klein und bei dem Fünfzehnjährigen in Handschellen – er hatte seine Eltern ermordet, stand unter dem Bild – war es ein Wunder, dass die Bilderkennung überhaupt etwas angezeigt hatte: Man sah nur eine Hälfte des Gesichts und das so verschwommen, dass es genauso gut ein Foto von Olle hätte sein können oder von irgendjemandem sonst.
»Tja, bei diesen beiden stimmt zwar das Alter, aber sonst wohl nichts«, sagte Olle. »Tut mir leid, mehr hab ich nicht.«
Entweder war da wirklich nichts zu finden, oder Jason hatte ebenso gute Möglichkeiten gehabt wie Celie, um seine Identität zu verschleiern. Beides beunruhigte Celie.
»Wenn von jemandem so gar keine Spuren im Netz zu finden sind – also, in den Daten, die wir hier noch haben –, das ist schon sehr ungewöhnlich«, sagte Olle nachdenklich. »Entweder hat er sehr viel getan, um sich zu verstecken«, er sah hoch, »oder, und das würde ich mal annehmen, er ist gesperrt gewesen.«
Celie blickte erschrocken auf.
»Nur so eine Idee«, sagte Olle, als er ihr Gesicht sah. »Wahrscheinlich Blödsinn. Schließlich war er erst achtzehn, als er hier ankam. Warum sollte man ein Kind sperren?«
Ja, warum?
Olle rief eine andere Datei auf. »Wo ich übrigens gerade beim Spionieren war, hab ich mir die Sache mit den vier toten Jungen mal angesehen. Kam mir komisch vor, was die Polizeichefin da gesagt hat. Dass es zuerst nicht die geringsten Spuren gab, und dann sagen sie plötzlich, es wäre eine Gang gewesen.« Er schüttelte den Kopf. »Hätte aber trotzdem nicht gedacht, dass die Nachrichten bei uns schon so manipuliert werden … Jedenfalls hab ich rausgefunden, dass es in den offiziellen Polizeidateien nicht die geringsten Hinweise auf Gangaktivitäten am Tatort gibt. Und Zeugenaussagen in dieser Richtung hat’s auch nicht gegeben. Tatsächlich ist da nichts, was auf einen Krieg zwischen Gangs hindeutet. Das Einzige, was am Tatort gefunden wurde, war offenbar eine leere Dose Cola und ein halber Riegel Schokolade.«
Celie stutzte. »Cola und Schokolade? Ich hätte nicht gedacht, dass es so was hier noch irgendwo gibt.«
»Tja, man weiß nie, welche Vorräte die Leute mitgebracht haben«, sagte Olle.
»Vielleicht steht hier ganz in der Nähe eine Cola-Fabrik und wir wissen nur nichts davon«, überlegte Celie laut.
Möglich war das schon. Selbst die Mobilen kannten ihre weitere Umgebung nicht immer sehr gut. Abgesehen davon wussten seit Einführung des Tornetzes die Unternehmen oft selbst kaum noch, in welchen entlegenen Winkeln sie überall Fabriken gebaut hatten.
Olle klickte eine andere Datei an. »Nein, das glaub ich nicht. Ich hab mir die Pläne der Umgebung mal angesehen, die sind ziemlich aktuell. Da ist keine Cola-Fabrik. Wenn sie sie nicht in dem alten Bergwerk versteckt haben.« Er lachte.
»Bergwerk?«
Olle deutete auf den Plan auf seinem PaintPad. »Wo man die Jungs gefunden hat, da wurde ganz in der Nähe bis vor etwa fünfzig Jahren Kupfer abgebaut.«
»Und was ist da jetzt?«
»Nichts, den Plänen nach.«
Celie bedankte sich bei Olle, der sie für den Abend zu einem Treffen von »besorgten Demokraten« einlud, wie er das selbstironisch nannte. Sie versprach, zu kommen. Dann ging sie zur Musikschule, packte dort ein Transport-Bike mit zwei Klarinetten, einer Gitarre, einer Blockflöte, einem kleinen Schlagzeug und drei Glockenspielen voll und machte sich auf den Weg in die Neustadt.
Aber die ganze Zeit über ging ihr nicht aus dem Kopf, was Olle gesagt hatte. Cola und Schokolade hatte man bei den toten Jungen gefunden. Cola und Schokolade … Der Einzige, bei dem sie solche Leckereien in der letzten Zeit gesehen hatte, war Jason gewesen.
Gedankenverloren fuhr sie durch die Felder. Im ersten Moment schien es total loco, dass Jason für den Tod der Jungen verantwortlich sein könnte. Aber wenn man alle Puzzleteile zusammennahm … Celies Gefahren-Sensor, der noch nie versagt hatte. Die Software, die das Bild des Jungen gefunden hatte, der seine Eltern umgebracht hatte. Die Tatsache, dass Jasons offizielle Biographie erst begann, als er achtzehn war, und Olles Vermutung, dass er als Jugendlicher gesperrt worden war. Cola und Schokolade – Luxusgüter, die kaum noch jemand besaß, die Celie aber bei Jason gesehen hatte.
Das waren schon viele Indizien, aber mehr auch nicht. Wenn Jason die Jungs wirklich ermordet hatte: Wie hatte er das angestellt? Und warum?
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