Als die Welt zum Stillstand kam
Monaten gefunden. Reiner Zufall war das gewesen. Er hatte das Haus gar nicht gesehen, das versteckt zwischen Lärchen und Balsamtannen lag. Aber gehört hatte er etwas. Kinderschreien. Es war zwar nur schwach, aber es hörte nicht auf und verfolgte ihn durch den Wald. Und schließlich war er zurückgegangen, hatte das Haus gefunden und Marlene. Von ihren Eltern keine Spur. Und da er es nicht eilig hatte – seit Bria tot war, hatte er es nicht mehr eilig gehabt –, war er über Nacht geblieben. Hatte Marlene (der Name war auf ihre Decke gestickt) gefüttert und sauber gemacht. Am nächsten Morgen waren ihre Eltern immer noch nicht da. Da hatte er dann eine Ewigkeit vor dem Tor draußen neben dem Haus gestanden. Hatte überlegt, zu irgendeiner Polizeistation zu beamen, damit die Marlenes Eltern suchten. Aber als er sich schließlich einen Ruck gegeben hatte, hatte das Tor nicht funktioniert. Und so war es bis heute geblieben. Immer wieder hatte Jeff seitdem überlegt, sich mit Marlene auf den Weg in die nächste Stadt zu machen. Aber was, wenn in der Zwischenzeit ihre Eltern zurückkamen?
Das war jetzt ein Vierteljahr her und die Eltern waren nicht aufgetaucht. Jeff hätte längst mit Marlene aufbrechen sollen, aber er schob das immer wieder hinaus. Wer wusste denn, was die Behörden mit der Kleinen machten, wenn ihre Eltern verschwunden blieben? Einem Aussteiger wie ihm würden sie sie jedenfalls ganz sicher nicht überlassen.
Es wurde Zeit für Marlenes Bad. Jeff trug sie hinaus zu dem ehemaligen Pferdetrog, der jetzt voll Regenwasser war. Einen großen Topf Wasser hatte er über dem Feuer erhitzt. Das schüttete er nun dazu und prüfte sorgfältig die Temperatur, bevor er mit Marlene hineinstieg. Sie mochte es genauso wenig wie er, zu baden. Aber wenn sie es zusammen machten, war es für beide nur halb so schlimm.
Plötzlich umklammerte Marlene den Rand des Trogs und richtete sich unsicher auf. Jeff widerstand dem Impuls, sie festzuhalten.
Bald würde sie laufen und dann brauchte sie Schuhe. Wolfs- oder Hirschleder wäre nicht schlecht. Gleich morgen würde er auf die Jagd gehen.
Jeff rieb Seife auf den Babyschwamm und begann Marlene zu waschen, die lautstark protestierte.
Tel Aviv, Herods Hotel
Die Piano-Bar des Herods Hotel bot einen atemberaubenden Blick aufs Mittelmeer. Aber der glatzköpfige Mann, der mit einer Hand auf dem Klavier herumklimperte und in der anderen eine Flasche Champagner hielt, sah das nicht. Nicht nur, weil er jetzt schon eine Ewigkeit in diesem Hotel festsaß, sondern auch, weil es seit einigen Tagen kein Wasser mehr gab. Seitdem trank er nur noch Champagner und das beeinträchtigte seine Wahrnehmung doch ganz erheblich.
Natürlich zwang ihn niemand, in diesem Hotel zu verdursten. Die anderen – diese Künstlerin Denise und ihr Anhang – waren schon vor Wochen verschwunden. Aber woanders war es vermutlich auch nicht besser. Wenigstens bekam er hier oben nichts von dem Gestank draußen mit. Und die Leiche von Christine Savage lag weit weg in ihrem Zimmer im zehnten Stock.
Jetzt brauchte er erst mal eine neue Flasche Dom Perignon. In der Kühlbox, die Christine an die Solaranlage angeschlossen hatte, lagerten noch zwei Flaschen.
Der glatzköpfige Mann stand schwankend auf und machte sich auf den Weg zur Bar.
Hier konnte er wenigstens mit Stil abtreten.
Aydinlar, in der Nähe von Ankara
Kemal wäre am liebsten gerannt. Er konnte ja schon die ersten Häuser von Aydinlar sehen! Aber Sue wurde immer langsamer, je näher sie Kemals Heimat kamen.
Sie sagte auch nichts mehr und das war ziemlich ungewöhnlich. Bisher hatte sie auf ihrer Reise von Genf hierher eine Menge geredet. Sie hatte ihm zum Beispiel erklärt, wieso sie so viele Tote sahen und was es mit dem Gefährt namens »Mähdrescher« auf sich hatte, mit dem sie den größten Teil der Strecke durch Italien gefahren waren.
Aber Kemal hatte Sue auch einiges erklären können. Zum Beispiel, wo man in der Natur am ehesten Wasser findet. Oder dass man Oliven nicht direkt vom Baum isst, sondern sie besser erst mal in Salzlake einlegt. Oder dass man um Wölfe, die es vor allem in Italien zuhauf gab, besser einen Bogen macht, statt sich mit ihnen wegen einer gammeligen Kuh anzulegen.
Als Kemal auf das Haus seines Großonkels Zahit deutete, blieb Sue stehen.
»Okay, Kemal. Wir haben’s geschafft.« Sie stützte die Hände auf den Oberschenkeln ab und schnaufte.
Zum ersten Mal bemerkte Kemal, dass sie eine alte Frau war.
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