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Als die Welt zum Stillstand kam

Als die Welt zum Stillstand kam

Titel: Als die Welt zum Stillstand kam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Neumayer
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Behandlung oder vor Schmerzen zu überspielen.
    Normalerweise hörte Alex gut zu, denn bei diesen Gesprächen fiel immer mal wieder eine wertvolle Information ab. Als sie Ende August jedoch von der A2 auf die A 3 wechselten, war Alex in Gedanken ganz woanders: Von hier aus war es nicht weit bis Moers, wo das Co-House lag, in dem er mit seiner Mutter gelebt hatte. Und obwohl er sicher war, dass seine Mutter nicht dort war, wollte ein Teil von ihm losrennen und sich vergewissern. Aber das war nicht das Einzige, was ihn beschäftigte. Er war todmüde und gereizt, wie alle anderen auch. Seit Tagen hatte er kaum etwas gegessen, denn das wenige, was sie hatten, gab Frau Kanowski den Kindern und denen, die Wache hielten. Bislang hatten sie immer wieder Glück gehabt: Immer wenn sie dachten, es ginge nicht mehr weiter, kamen sie an einem Stück Wald vorbei, in dem sie Bucheckern und ein paar Beeren finden konnten. Oder sie stießen in einem verlassenen Haus auf Konservendosen, die andere vor ihnen übersehen hatten. Oder sie fanden einen See, in dem sie nicht nur trinken, sondern auch baden konnten. Ein unglaublicher Luxus – auch wenn Alex wie alle anderen den durchdringenden Gestank kaum noch wahrnahm, den lebende und tote Menschen, ungewaschene Klamotten und vermodernder Abfall verströmten.
    Wenn es mal regnete – was viel zu selten vorkam –, sammelten sie das Wasser in jedem Behälter, den sie hatten, vom Topf über die Plastiktüte bis zum Kinderspielzeug. Einige Male war auch ein Lkw des Roten Kreuzes oder der Bundeswehr mit Wasser, Essen und Wasseraufbereitungstabletten vorbeigekommen, aber das war schon lange her. Entweder hatten sie inzwischen nichts mehr zu verteilen, oder sie hatten es aufgegeben, weil viele Lkws gekapert worden waren. Jetzt flog nur noch ab und zu einer dieser altmodischen Hubschrauber über sie hinweg und warf Zettel mit Durchhalteparolen ab.
    Wasser, Wasser, Wasser. Das war das wichtigste, das einzige Thema auf der Straße. Wasser war der Grund, warum Menschen bestohlen und umgebracht wurden. Dass Alex selbst noch niemanden getötet hatte, verdankte er den Mitgliedern der Gruppe, die vor Gewalt nicht zurückschreckten. Vor allem Ruben und die Klempner erledigten die Drecksarbeit für sie, und niemand fragte groß nach, wenn sie mit neuen Vorräten ankamen oder irgendwo ein Bike aufgetrieben hatten. Aber im Grunde wussten sie alle, dass die Vorbesitzer ihre Schätze nicht freiwillig herausgerückt hatten.
    Alex versuchte, nicht darüber nachzudenken.
    Bei diesem Treffen Ende August behandelte er nun schon den fünften Patienten. Er war abgelenkt, todmüde und wäre längst eingeschlafen, wenn sein Magen nicht so geknurrt hätte. Darum bekam er fast nicht mit, was sein Patient – ein bulliger Mann mit einem entzündeten Daumen – vor sich hin murmelte: »… Lager der Zivilen Notfallreserve gibt. Und die da oben halten das immer noch geheim, die Schweine.«
    Alex versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er zuhörte. Er kramte weiter in seinem Rucksack mit den selbst gemachten Arzneien.
    »Scheiße, tut das weh! – Aber wir sind nicht so blöd, wie die denken. Tja, ist schon erstaunlich, was so einer vom Technischen Hilfswerk alles ausplaudert, wenn man ihm ein Messer an die Kehle hält. – Wurde aber auch Zeit, dass es wieder was zu essen gibt. Das ewige Kindergeschrei in der Gruppe, von wegen sie hätten Hunger, das geht einem ja so was von auf die Eier! Na ja, noch ein Tag vielleicht, dann können wir uns den Bauch vollschlagen.«
    Plötzlich schaute er von seinem Daumen hoch und sah Alex misstrauisch an.
    »Entschuldigung, ich hab nicht zugehört. Was haben Sie gesagt?« Alex versuchte, uninteressiert zu klingen.
    »Ach, nichts«, murmelte der Mann.
    Sie folgten der Gruppe des Mannes mit dem entzündeten Daumen den ganzen Tag und ließen sie auch nicht aus den Augen, als die Gruppe im Dunkeln weiterging. Schließlich gaben die anderen es auf, sie abhängen zu wollen. Als sie das Lager der Zivilen Notfallreserve erreichten, waren sie sowieso nicht die Ersten: An die hundert Menschen hatten es schon vor ihnen entdeckt. Es gab Reis, trockene Erbsen, Linsen und Vollmilchpulver – aber die ausgehungerten Menschen hätten auch um Schokolade, Pizza und Cola nicht verbissener kämpfen können.
    Diesmal konnte sich niemand heraushalten, es ging ums Überleben. In der Luengo-Gruppe bewachte nur einer der Klempner die Kinder, bewaffnet mit einem Jagdmesser und einem Eisenrohr aus

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