Als es Nacht war in Dresden: Roman (Frauenromane) (German Edition)
meist noch länger in der Küche auf. Das Fenster war mit einem Verdunklungsrollo versehen. Genau nach Vorschrift. So nutzten Gisela und ich die Gelegenheit des Alleinseins im Schlafzimmer für ein Plauderstündchen vor dem Einschlafen. Oft weinten wir auch. Bestimmt hatte auch Gisela Heimweh nach unserem Häuschen, Sehnsucht nach Laurenz. Wenn das Thema auch gemieden wurde, so wusste die eine von der anderen immer, was sie bedrückte. Zwar war Gisela eindeutig die Stärkere, sie konnte ihren Kummer viel besser verbergen als ich, aber sie litt auch unsagbar. Von Laurenz kam bisher keine Post. Herr Weber erzählte mir eines Morgens, dass die Franzosen am 6. März 1945 den Oberrhein und ganz Baden besetzt hatten, somit war meine Heimat nun in der Hand der Fremden. Herr Weber hörte täglich den Londoner Sender und war dadurch auf dem Laufenden. Die dort in Gefangenschaft geratenen Soldaten kamen in Lager und wurden nicht gerade menschlich behandelt. Waren unter den Gefangenen Elsässer, so wurden diese zum Teil von den Franzosen in die Fremdenlegion verpflichtet. Dies konnte Laurenz auch passiert sein, was Gisela bereits befürchtete, aber sie schwieg. Sicher war sie in Gedanken viel bei ihm. Still auf unserem Bett sitzend, sah sie oft ins Leere, ihre Haltung sprach Bände. Oft konnte ich sie erheitern, wenn ich ihr von meinem Großvater erzählte. Besonders seine Sprüche, wenn er mich bei irgendetwas erwischt hatte. Heute versuchte ich es mit Singen, das hatten Großmutter und ich immer gemeinsam gemacht. So summte ich vor mich hin.
»Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh, es sind die lieben Gänslein und ha’m keine Schuh. Schuster hat Leder, kein Leisten dazu, drum geh’n die lieben Gänslein und ha’m keine Schuh.«
»Hör auf, Peterle, mit deinen Gänschen. Du brauchst mich nicht daran zu erinnern, dass ich manchmal eine Gans bin.«
»Das sagst du, Gisela, ich wollte dir eigentlich klarmachen, entweder Leder oder Leisten. Haben wir die Wahl? Wir tragen beide denselben Schmerz in uns, Gisela, aber nicht alleine. Viele Menschen müssen mit noch größeren Opfern fertig werden. Vergessen werden wir nicht. Der Schmerz wird uns noch oft überwältigen, aber wir haben die Pflicht weiterzuleben. Es wird sicher in unserem Leben noch Menschen geben, die uns brauchen und vielleicht dafür dankbar sind, dass es uns beide gibt. Was meinst du? Weißt du, Gisela, gerade in diesen Tagen muss ich so oft an Oma denken. Wenn sie mich zu Bett brachte, haben wir erst gebetet, dann gesungen: ›Der Mond ist aufgegangen‹ oder ›Guten Abend, gute Nacht‹ oder ›Weißt du, wie viel Sternlein stehen‹. Oft und gern sang ich mit Großmutter das Lied aus Hänsel und Gretel: ›Abends, wenn ich schlafen geh, 14 Engel um mich steh’n. Zwei zu meinen Häuptern, zwei zu meinen Füßen … «. Ich zählte mit meinen kleinen Fingern mit, ob wir nicht etwa zwei vergessen hatten. Aber wir hatten am Ende des Liedes immer alle 14 Engel um uns, so schlief ich ein, bewacht von allen Engeln und meiner Großmutter. Was denkst du, Gisela, hatten wir nicht 14 Schutzengel um uns am 15. Februar? Hast du mal darüber nachgedacht, wenn wir noch am Altmarkt gewesen wären, ob wir den Feuersturm überlebt hätten?«
»Ja«, gab Gisela zu, »das habe ich. Aber auch darüber habe ich gegrübelt, dass es Laurenz und Karl hätte treffen können, wären sie noch in Dresden gewesen.«
Frau Weber sprach ich nun an, wie und womit ich mich nützlich machen könnte.
»Du kannst einiges tun, Kleines. Von unseren Lebensmittelkarten gebe ich dir Abschnitte. Komm heute am späten Nachmittag in unser Geschäft. Du musst aber unbedingt darauf achten, dass ich dich bedienen kann. Heute Vormittag bekommen wir Ware geliefert. Ich kann nach dem Auspacken schon etwas reservieren für uns. Dich kennen die Leute hier nicht. Also kann ich mehr abwiegen. Wichtig, ganz wichtig ist, dass ich dich bedienen kann, sonst klappt es nicht.« – Und wie es klappte!
Ich stellte mich hinten an, ließ Frau Weber unauffällig erkennen, dass ich da war und mich am besten auf der rechten Seite anstellte. Eine junge Frau schob sich gerade vor mich, als Frau Weber mich bedienen wollte. In der Mitte bediente die Chefin. Ich war an der Reihe. Schnell räumte ich den Platz, rutschte nach rechts, als die Frau hinter mir vorsprang und an meine Stelle trat. So fiel alles gar nicht auf. Drängeln war an der Tagesordnung. Es ging alles nur noch ums Überleben. Rücksichtnahme konnte ein
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