Als es Nacht war in Dresden: Roman (Frauenromane) (German Edition)
Wir waren auch stets bemüht, das Elternpaar abends noch ein bisschen alleine zu lassen, damit sie sich in Ruhe unterhalten konnten. An diesem Abend kamen sie viel später als sonst in das Schlafzimmer. Gisela war bereits eingeschlafen, da setzte ich mich im Bett auf, weil ich glaubte, vom Friedhof her meinen Namen rufen zu hören. Ich sah einen Grabstein, dahinter kam Karl zum Vorschein. Sein Gesicht war schneeweiß. Er hatte seine Feldmütze auf, ich sah nur seinen Oberkörper und hörte ihn eindringlich rufen:
»Hau ab! Schnell, hau ab!« Dann war er verschwunden. Mein Gott, ich hatte ihn mit offenen Augen gesehen. Das war eine Botschaft, ein Zeichen. Dem musste ich folgen. An Schlafen war nicht mehr zu denken.
Gisela ging mit Frau Weber am Morgen zur Arbeit, so war ich mit Herrn Weber allein. Meine Nachdenklichkeit fiel ihm auf. Er fragte direkt, was mich denn bedrückte oder mir Sorgen bereitete.
Dann erzählte ich ihm von meiner Vision. »Sicher werden Sie mich am besten verstehen. Glauben Sie mir, ich habe nicht geträumt, mit offenen Augen sah ich Karl und hörte seine Worte.«
»Ich glaube dir ja«, sagte Herr Weber, »es passieren oft Dinge in unserem Leben, wofür wir keine Erklärung haben, die uns aber Zeichen setzen, uns den Weg vorzeichnen.«
»Ich möchte morgen zurückfahren«, beschwor ich ihn aufgeregt, »nachher werde ich mich erkundigen, wie und wann ich nach Stralsund fahren kann.«
»Willst du wirklich zurück?«, sorgte sich Herr Weber. »Du wirst sicher nicht mehr bis Dresden kommen.«
»Lassen Sie es mich probieren. Wenn es nicht klappt, habe ich es wenigstens versucht. Dann weiß ich, es sollte eben nicht sein.«
»Versprich mir fest, dass du sofort umkehrst, sobald es Schwierigkeiten gibt!«, nahm Herr Weber mir das Verspechen ab.
»Ganz bestimmt werde ich zurückkommen. Ich weiß, dass ich hier gut aufgehoben bin. Vor allem bin ich Ihnen und Ihrer Frau viel Dank schuldig. Sie haben mich, ohne mich zu kennen, bei sich aufgenommen. Es ist schon gut, dass es Menschen gibt wie Sie beide, die hilfsbereit sind und mit anderen teilen. Die Not und das Elend wären sonst noch viel größer. Ich kann Ihnen nur tausend Dank sagen für alles.«
Was mich sehr schmerzte, war der Abschied von Gisela. Es war eine kurze Zeit, die wir zusammen waren, aber so innig, als wären wir zusammen groß geworden. Ich hoffte, dass uns ein Wiedersehen in anderen, besseren Zeiten vergönnt sein würde. Am Morgen gegen acht Uhr fuhr ich mit dem Zug von Bergen nach Stralsund. Herr Weber brachte mich zum Bahnhof. Gisela verweigerte ihre Begleitung. Wir hatten kaum geschlafen, in Tränen aufgelöst, versuchte ich, Gisela zu trösten. Dabei hätte ich selbst Trost gebraucht. Aber mich zum Bahnhof zu begleiten, sei ihr nicht möglich, schluchzte sie. Der Gedanke, dass wir uns trennen und vielleicht lange oder gar nicht mehr wiedersehen würden, sei schwer genug. Stumm verabschiedete ich mich von Frau Weber. Sie sprach kein Wort, drückte mich heftig und verließ eilends mit ihrer Tochter die Wohnung.
»Auf Wiedersehen, alles Gute, und wenn es nicht klappt mit der Weiterreise, komm bitte heute noch zurück«, so verabschiedete mich Herr Weber und winkte mir nochmals zu.
Nun war ich für mich alleine verantwortlich. Wie würde es weitergehen? Schaffte ich es? Düstere Gedanken befielen mich. Mal tiefe Trauer – so ohne Gisela –, mal kam ein bisschen Hoffnung auf, wenn ich an Hedy und Max dachte und Frau Rudolph vor Augen hatte. So ganz ohne ein Zuhause war ich ja nicht, sollte nur die Rückkehr gelingen. Was noch kommen mochte, traf uns alle. Bisher hatte ich so viel Gutes erfahren, hatte immer einen Schutzengel. Vielleicht war ich nun an der Reihe, anderen zu helfen! Diese und andere Gedanken nahmen derart von mir Besitz, dass ich es gar nicht merkte, dass wir in Stralsund angekommen waren. Möglicherweise auch, weil ich Angst hatte auszusteigen. Auf den Bahnsteigen wimmelte es von Flüchtlingen, Militärs und Aufsicht. Zunächst blieb ich einfach auf dem Bahnsteig, auf dem ich angekommen war. Wie viel Zeit mochte schon vergangen sein seit meiner Ankunft? Ich wusste es nicht. Soldaten, die für Auskunft und Ordnung zuständig waren, gaben den Flüchtlingen Ratschläge, soweit es ihnen möglich war.
Bei einem jüngeren Soldaten versuchte ich mich zu informieren. Er sah mich groß an und meinte, es gäbe keine direkten Zugverbindungen mehr. Ich solle einfach abwarten, wenn ein Zug für Zivilisten einfuhr,
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