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Als es Nacht war in Dresden: Roman (Frauenromane) (German Edition)

Als es Nacht war in Dresden: Roman (Frauenromane) (German Edition)

Titel: Als es Nacht war in Dresden: Roman (Frauenromane) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Siemon
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späten Vormittag, fuhren Gisela und ich von Radebeul in Richtung Leipzig, wo wir die möglichen Verbindungen nach Berlin erkunden wollten. Fahrkarten gab es keine, der Schaffner vom Dienst sollte während der Fahrt einkassieren. Es herrschte überall Chaos. In meinem Rucksack hatte ich sorgfältig die kleinen Bücher von Karl, die er mir geschenkt hatte, zusammen mit den Briefen verpackt. Ebenso die zwei Sparkassenbücher und sonstige Papiere. Ein kleines Album mit zwei Fotografien von Karl und einem Bild von Laurenz. Einige Bildchen von Mutter zusammen mit mir vor dem Zwinger, meine Großeltern. Darauf wollte ich besonders gut aufpassen. Ich wünschte mir so sehr, dass mir diese Kostbarkeiten nicht verloren gingen. Es war eine hübsche Summe Bargeld, die Max mir beim Abschied zugesteckt hatte. Er sagte mir einmal nach Erichs Tod, dass er ein Sparbuch für ihn angelegt hätte.
    »Nun braucht er es nicht mehr, wer weiß, vielleicht hilft es dir eines Tages«, erklärte er mir. Dieses Geld verbarg ich direkt am Körper, damit es nicht verloren ging. Für die Fahrt verstaute ich in einem Brustbeutel gerade so viel Geld, dass ich nie den Rucksack öffnen musste. Gisela gab ich auch etwas zur Aufbewahrung, mit der Bitte, sie möge ihre Fahrt davon bezahlen.
    In Leipzig kamen wir allerdings erst gegen 22 Uhr an. Der Zug war brechend voll. Es war ein fürchterliches Gedränge. Wir hatten einen einzigen Sitzplatz bekommen, dadurch konnten wir uns abwechselnd setzen und ein Auge auf die Koffer haben. Meinen Rucksack nahm ich nicht herunter, obwohl mein Rücken müde war, ich hielt durch. In Leipzig angekommen, wusste niemand, wie es weiterging. Wir verbrachten die ganze Nacht auf dem Bahnhof. Die Bahnsteige waren voll Menschen, die teils im Sitzen schliefen, teils unruhig hin und her gingen. Blass die Gesichter, Mütter total erschöpft, kaum in der Lage, die Kinder zu beruhigen. Verwundete Soldaten mit durchgebluteten Verbänden. Dunkle Schwaden von Verzweiflung, Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit lagen über uns. Manche Menschen unterhielten sich, erzählten von Verlorengegangenem, Verschüttungen, Verstümmelungen. Aus jeder Erzählung sprach Tod, Vernichtung, Verzweiflung. Auch ich war im Sitzen ein paarmal eingeschlafen. Jedes Mal, wenn ich aufschreckte, stand oder saß Gisela neben mir, die Koffer im Auge behaltend, und beruhigte mich.
    »Schlaf ruhig ein bisschen, ich passe gut auf.« Bei Tagesanbruch kam Bewegung in alles und ein Zug fuhr ein, der sogar in Richtung Berlin fuhr, wenn nichts dazwischenkam. Plötzlich gab es ein fürchterliches Geschiebe. Alle wollten einsteigen. Gisela hatte beide Koffer und ließ sich nicht verdrängen. Sie war bei den Ersten, die einstiegen. Ich wurde plötzlich zurückgedrängt, von den Nachrückenden aber wieder nach vorne geschoben. Mit aller Kraft musste ich mich dagegen wehren, um nicht beim Einsteigen auf die Gleise zu fallen. So sehr die Wartenden aufeinander zugingen, so rücksichtslos waren sie beim Einsteigen. Jeder war sich selbst der Nächste. Zum Teil fielen böse Worte. Was war nur aus uns Menschen geworden?
    Wir hatten Glück. Gisela hatte zwei Plätze besetzt und verstand es, sie zu verteidigen, bis ich bei ihr war. Alles war schon besetzt, auf den Gängen zusammengepresst. Eine abgemagerte junge Mutter mit zwei Kindern von vier und eineinhalb Jahren hielt sich mit dem kleineren auf dem Arm am Abteilgriff der Tür fest. Gisela stand auf, ließ die Mutter mit dem Kind auf ihren Platz und setzte mir das größere auf den Schoß. So wechselten wir uns im Sitzen und Aufpassen ab. Den ganzen Tag saßen oder standen wir, gedrängt, geschubst, im engen Abteil. Jeder Mitreisende hatte sein eigenes schlimmes Schicksal, aus allen Berichten sprachen Krieg, Sterben, Vernichtung, Verzweiflung. Der Geruch in den Waggons wurde schier unerträglich. Die Fahrt wurde oft unterbrochen, und dann nützte man die Gelegenheit, um frische Luft zu atmen. Die Menschen waren an der Grenze der Belastbarkeit. Oft kamen Zweifel in mir auf, ob wir es dennoch schafften, am heutigen Tag in Berlin anzukommen. Wie oft wir auf freier Strecke hielten, wurde gar nicht mehr registriert. Wir konnten sowieso nichts daran ändern. Aber gegen 21 Uhr waren wir doch am Ziel.
    Berlin … Wie sollte es jetzt weitergehen? Gab es noch eine funktionierende Bahnverbindung? Dies musste ich nun alles Gisela überlassen. Dabei konnte ich sie wenig unterstützen. Nur – einfach mitmachen. Da, es heulten die

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