Als es Nacht war in Dresden: Roman (Frauenromane) (German Edition)
verletzen oder ihnen das Gefühl zu geben, dass ich sie beiseiteschieben wolle.
Wie viele Familien waren seit Kriegsbeginn zerstört, bei Luftangriffen ums Leben gekommen. Wer von ihnen überlebt hatte, sei es alt oder jung, musste sehen, wie er damit fertig wurde, und nur wenige hatten Hilfe durch andere Menschen. Es ging einfach um das nackte Überleben, jeder musste es auf irgendeine Weise meistern und weiter vorausschauen, wohin der Weg führte.
Abends, ehe es ganz dunkel wurde, kam ich in Niederau an. Hedy und Max wussten den Tag meiner Rückkehr, aber nicht die Uhrzeit. Darauf konnte man sich nicht mehr verlassen. Die Züge fuhren nie pünktlich ab und kamen auch nie fahrplanmäßig an. Was war das für eine Erleichterung, als ein Mitarbeiter der Rütgers Werke am Bahnhof ein Expressgut abholte, mich erkannte und mir sofort anbot, meinen Koffer auf seinem Fahrrad zu transportieren! Er wohnte mitten im Dorf und kannte Max gut. Ich sagte ihm, da er auf dem Heimweg bei Deschers vorbeifuhr, könnte er den Koffer einfach abgeben. Aber das wollte er nicht. Da es schon dunkelte, wollte er mich lieber begleiten. Er war sehr neugierig, zumal er wusste, dass ich eine Zeit lang bei Familie Weiler in Dienst war. Von meinen Großeltern erzählte ich ihm, von meiner langen, umständlichen Reise und auch, dass ich Anfang Oktober nach Dresden zur Schule gehen würde. Es war ziemlich sicher, dass Bruno von diesem zufälligen Treffen erfahren würde und Weilers dadurch informiert waren, dass ich täglich gegenüber auf dem Bahnsteig stehen und auf den Zug warten würde. Aber das hatte ich bereits schon alles hinter mir gelassen. Jetzt begann ein neuer Abschnitt. Ich freute mich darauf. Das Vergangene wollte ich vergessen. Sicher würde ich mich später wieder an vieles erinnern, dann würde auch alles anders von mir beurteilt, weil ich es mit den Augen einer Erwachsenen sah.
Hedy und Max sahen uns am Gartentor stehen. Max kam sofort, begrüßte uns und nahm den Koffer vom Gepäckträger. Er bat seinen Bekannten ins Haus, doch der lehnte ab und meinte, er würde bestimmt schon daheim erwartet. Wir bedankten uns gerade noch einmal für die Hilfe, als auch Hedy uns entgegenkam:
»Na, mein Mädel, da bist du ja wieder. Sicher hungrig und sehr müde.«
»Letzteres schon, aber ich möchte euch trotzdem noch das Wichtigste erzählen, den Rest sparen wir uns für einen anderen Tag.« Hedy musterte den Koffer, sagte aber nichts, noch nicht. Max stellte ihn in das kleine Wohnzimmer, damit ich ihn, wie er meinte, bequemer auf dem Sofa auspacken könnte.
»Aber erst essen wir etwas zusammen, dann kannst du immer noch, wenn du Lust hast, mit Auspacken anfangen.«
Irgendwie war die Stimmung gedrückt. Sollte ich erst mit meiner Beichte beginnen? Oder erst essen und dann beim Auspacken von dem Missgeschick erzählen? Mein Gedanke war noch nicht so richtig fertig gedacht, als ich schon losplapperte:
»Hedy, ich hatte großes Pech. Auf der Hinreise hat man mir den Koffer in Leipzig auf dem Bahnsteig gestohlen. Ich hatte nichts mehr, als ich zu Hause ankam. Es tut mir ehrlich leid um Erichs Koffer.« Max fragte sofort, wie ich denn so ohne meine Sachen zurechtgekommen sei.
»Nun«, sagte ich, »es hat jeder geholfen. Was passte, zog ich an, was mir nicht passte, wurde eben passend gemacht.« Das Thema Erna kam dadurch gut in das Gespräch, indem ich von den erstandenen Schuhen erzählte, auch berichtete, wie sehr Erna sich über mein Kommen gefreut hatte. Hedy schwieg immer noch. Max meinte nur, in einer solchen schweren Zeit könne man auch ohne Koffer auskommen, wenn nötig, genüge ein Rucksack.
Hedy erwiderte darauf, während sie die Teller abräumte:
»Ich habe so etwas geahnt, dass ich den Koffer nicht wiedersehen würde.« Max blinzelte mir zu, was für mich bedeutete, dass ich einfach nicht mehr darüber reden sollte.
Ich beteuerte trotzdem noch einmal: »Es tut mir so leid wegen des Koffers.«
»Schon gut«, gab Hedy zur Antwort und ging in die Küche. Um schlafen zu gehen, war es noch zu früh. So fing ich noch mit dem Auspacken an, legte den Inhalt auf das Sofa, um am anderen Tag alles in meinen kleinen Schrank einzuräumen. Großmutter hatte mir für Hedy ein gesticktes Nadelkissen mitgegeben. Sie war sichtlich gerührt darüber und bewunderte die schöne Stickerei. Das Kissen war in Herzform angefertigt. Für Max hatte ich eine Tafel Zartbitterschokolade. Mutter bekam nämlich einmal im Jahr aus der Schweiz ein Paket.
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