Als es Nacht war in Dresden: Roman (Frauenromane) (German Edition)
lautete: Die Schuhe anziehen und draußen in der Kälte (es war Dezember) warten, bis der Unterricht zu Ende war. Den Schulranzen musste ich liegen lassen. Gertrud brachte ihn mir nach Hause. Aber die Kälte war Sieger. Ich überlegte nicht sehr lange und ging einfach nach Hause. Der Heimweg dauerte etwa 15 Minuten. Ich konnte gut nachempfinden, was dieses Mädchen litt. Wie konnte ich ihr helfen? Da fielen mir meine Entenfinken ein. Finken, so heißen die Hausschuhe bei uns an der Schweizer Grenze. Diese Finken waren aus Filzstreifen geflochten und zusammengenäht. Ihre Form war wie ein Schiffchen, vorne und hinten spitz. Gefüttert hatte mir Großmutter diese Finken mit Kaninchenfell, sehr warm und bequem. Nur auf die Straße gehen konnte man damit nicht. Aber wäre das nicht genau das Richtige für dieses Kind? Schnell machte ich Gisela klar, dass ich für kurze Zeit verschwinde, um etwas zu holen.
»Geht klar«, sagte Gisela, »aber vergiss das Wiederkommen nicht.«
»Keine Sorge, ich komme schon wieder!« Wie schnell ich doch laufen konnte. Außer den warmen Finken nahm ich noch einen dicken Pullover mit und da hatte ich noch selbst gestrickte warme Socken. Alles zusammengepackt, eilte ich zurück, so schnell ich konnte, um der Kleinen wenigstens zu warmen Füßen verhelfen zu können. Von Weitem sah ich Sofia, die Apothekerin, wie sie sich an den Füßen des Mädchens zu schaffen machte. Sie hatte sogar eine Schüssel mit warmem Wasser und ließ das Kind seine Füße darin baden.
Als ich kam, sah mich Sofia lächelnd an.
»Wo kommst du denn jetzt her?« Ich ließ sie in die Tasche blicken, da rief sie freudig: »Oh, da haben wir ja das Richtige.« Sofia rieb dem Kind die Füße ein und wir zogen ihr gemeinsam ein Paar Socken an, steckten die Füße in die Entenfinken und warteten auf die Reaktion. Erst kamen Tränen, die schnell mit einem Ärmel abgewischt wurden. Dann kam ein Hinabschauen auf die Füße, die vorsichtig bewegt wurden. Dann kam für Sofia und mich das Schönste. Ein Lächeln, das keine Traurigkeit zurückließ, und ein Umarmen.
»Danke, nochmals danke«, sagte die Kleine überglücklich, und wir waren es auch, dass wir wenigstens ein bisschen helfen konnten.
Der ganze Treck wurde, oder sollte, im Laufe des Tages untergebracht werden. In Turnhallen, bei Landwirten, in Scheunen. Die Feldpolizei organisierte die Einquartierung. Es galten strenge Regeln und die Durchziehenden sollten am anderen Tag wieder weiter. Zumindest diejenigen, die dazu in der Lage waren. Viele waren schwer erkältet, hatten zum Teil Fieber, waren entkräftet. Es kamen immer neue Trecks, und die Bevölkerung war allmählich damit überfordert. Daher hießen sie die Flüchtigen nicht gerade freudig willkommen. Die Feldpolizei, von der Bevölkerung auch Kettenhunde genannt, weil sie um den Hals über der Uniform eine große Kette trugen, vorne am Hals ein halbrundes Schild, darauf stand ›Feldpolizei‹, durfte auch Verhaftungen vornehmen. Überall tauchten diese Feldpolizisten auf und führten Kontrollen durch. Sie waren gefürchtet. Eine Gruppe der Flüchtlinge erhielt gerade die Anweisung, sich bereitzuhalten, um in eine Unterkunft gebracht zu werden. Gisela und ich standen bei ihnen, um ihnen alles Gute zu wünschen und ein bisschen Mut zu machen. Doch dies ging daneben. Ganz abrupt, denn in mir bäumte sich alles auf, als ich diese Elendsgestalten sah, diese Bedürftigkeit, diese Hilflosigkeit.
Mein Gott, wo bist Du?
Wie in Trance sprach ich, mehr zu mir selbst, aber ich spürte, dass sie mich alle ansahen, entsetzt oder hilflos. Ängstlich?
»Wohin soll das alles noch führen? Irgendwann ist alles aus, dann stehen wir auf einem Platz und warten darauf, dass sie uns erschießen wie die Juden!«, stammelte ich. Eine tödliche Stille trat ein. Ich merkte es erst, als einer der gefürchteten Kettenhunde vor mir stand und mich mit eisigem Blick leise aufforderte, sofort den Platz zu verlassen, ehe er es sich anders überlegte und mich verhaftete. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehte ich mich um, rannte zur Straßenbahnhaltestelle, stieg in eine Bahn Richtung Weinböhla und lief, so schnell meine Füße mich trugen, nach Niederau in die Arme von Hedy und Max.
Nun konnte ich haltlos weinen. Ohne viel zu reden, beruhigten mich die beiden erst mal.
Hedy kochte mir einen Tee und setzte sich neben mich auf das Sofa. »Möchtest du reden?«
Erst erzählte ich von den Flüchtlingen, dass wir den ganzen Morgen
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