Als es Nacht war in Dresden: Roman (Frauenromane) (German Edition)
Raum zwischen uns, wo wir doch gerade nur das eine wünschten: einmal einander ganz nah zu sein. Als Gisela und Laurenz hereinkamen, bat mich Karl, den Brief erst zu lesen, wenn ich alleine war. Das Päckchen brachte drei Bücher zum Vorschein. Das größere Buch von Rolf Roeingh ›Die Töchter des Windes‹ und zwei kleinere Bücher mit Gedichten von Conrad Ferdinand Meyer. Alle drei Bücher waren auf der Innenseite mit dem Vermerk versehen: ›Zum ewigen Andenken anlässlich Deines 18. Geburtstages an Deinen Karl‹. Ein wundervolles Geschenk in diesen schwierigen Zeiten. Am schönsten aber war die Widmung. Ich fühlte mich so geborgen und getragen. Den ganzen Abend konnte ich nicht viel sprechen, so voll war mein Herz, vor Freude und vor Glück, ich wurde geliebt, so wie ich war.
An diesem Abend haben Karl und ich entschieden, dass wir, wenn alles vorbei war, ein gemeinsames Leben führen wollten.
Das Schönste aber hatte ich noch vor mir. Das Lesen des Geburtstagsbriefes. Gisela wollte am anderen Tag nach Dresden fahren und mit Laurenz versuchen, in einem Modegeschäft etwas auf die Kleiderkarte zu bekommen. Diese Gelegenheit nutzte ich aus, um in Ruhe den Brief zu lesen und um Karl ganz nahe zu sein.
Dresden im Nov.1944
Meine Petra!
Nur einige Worte für Dich. Kann unsere Liebe anders bestehen als durch Aufopferung, durch nicht alles Verlangen? Kannst Du es ändern, dass Du nicht ganz mein, ich nicht ganz Dein bin? Ach Gott, blick in die schöne Natur und beruhige Dein Gemüt über das Missende. Die Liebe fordert alles und ganz mit Recht. So ist es mir mit Dir und Dir mit mir. Nur vergisst Du vielleicht, dass ich für mich und Dich leben muss. Wären wir ganz vereinigt, Du würdest dieses Schmerzliche ebenso wenig empfinden wie ich. Ich leide wie Du, wo ich bin, bist Du mit mir, und mit Dir rede und scherze ich. Wie sehr Du mich auch liebst, stärker liebe ich jedoch Dich! Doch nie verberge Dich vor mir. Ist es nicht ein wahres Himmelsgeschenk, unsere Liebe? Aber auch so fest, wie die Feste des Himmels. Erheitere Dich und bleibe mein einziger, treuer Schatz, wie ich Deiner. Das Übrige müssen uns die Götter schicken, vergiss mich nie!
Immer Dein Karl
Ich kann die Liebe nicht beschreiben. Ich weiß aber eins, sie erfüllt jeden anders. Die Liebe kann einen auffangen, wenn man fällt. Mich hat diese Liebe aufgefangen. Sie erfüllte mich mit Gegenliebe, mit Glück und Hoffnung. Ich wollte Karls große, unkomplizierte Liebe seiner Jugend sein und alles mit ihm teilen. Was solche Hoffnung, solche Liebe doch Kraft verleihen kann. Wie sonst könnte man all die Geschehnisse noch verkraften?
Die Lebensmittelversorgung wurde immer schlechter. Immer mehr Flüchtlinge kamen vom Osten, wurden notdürftig versorgt und mussten weiterziehen. Die Trostlosigkeit und Erschöpfung war ihnen anzumerken. Kinder wurden unterwegs geboren und starben. Das Elend war unbeschreiblich. Die Bevölkerung versuchte mit Unterkunft, Decken und ähnlichen Dingen des täglichen Bedarfs zu helfen, wo es ging. Nahrungsmittel waren knapp, was es noch gab, war gerade genug, um selbst zu überleben. Wenn ich daran denke, dass ich maßlos glücklich war, weil Karl mich liebte, weil er mir mit seinem Brief das schönste Geschenk gemacht hatte, dann kam es mir wie Verrat vor an den Menschen, die heimat- und hoffnungslos weiterziehen mussten, hungrig und frierend, und nichts konnte ich für sie tun. Von unserer Schule wurden wir angewiesen, in Notfällen bei der Essensausgabe mitzuhelfen. Es gab Wunden zu verbinden, die Kinder wurden, um die Mütter etwas zu entlasten, von Helfern betreut. Ich traf auf ein Mädchen von etwa acht oder neun Jahren. Es weinte still vor sich hin. Zusammengekauert saß es auf einem Karren, während seine Mutter versuchte, für sich und die drei Kinder Essen zu ergattern.
»Tut dir etwas weh?«, fragte ich das Mädchen. Es gab mir keine Antwort und schaute einfach auf seine Füße, die in Lappen gewickelt waren. Mein Gott, dachte ich, die Kleine hat, genau wie ich immer hatte, kalte Füße.
Mir ging plötzlich eine Szene durch den Kopf, als ich, 13-Jährig, beim Religionsunterricht in der ungeheizten Krypta meine Schuhe auszog, um meine Füße warm zu reiben. Der Pfarrer, der das beobachtete, ließ mich aufstehen, weil ich in diesen heiligen Hallen nicht andächtig genug war und den Unterricht störte. Ich erklärte ihm, dass meine kalten Füße mich schmerzten. Es gab dafür keine Entschuldigung, der Befehl
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