Als gaebe es kein Gestern
kurz auf. „Glaub mir, das war nicht nötig. Du hast keinen Hehl aus deinen Seitensprüngen gemacht.“
„Du bist krankhaft misstrauisch“, behauptete Livia. „Wahrscheinlich siehst du Dinge, die niemals da waren.“
Livias Worte riefen eine Veränderung in Arvins Gesichtsausdruck hervor. Die Hilflosigkeit verschwand hinter neu gewonnener Stärke. Er streckte ein weiteres Mal die Hand aus. „Du hast es versprochen.“
„Warum bedeutet es dir so viel?“, hörte Livia sich fragen.
Aber der Zugang zu ihm war längst versperrt. „Du stellst weitere Bedingungen?“, fragte er kalt.
Livia senkte enttäuscht den Blick, streckte ihrerseits die Hand aus und reichte ihm das kaputte Album. „Ich könnte dir helfen, es zu reparieren“, sagte sie heiser.
„Du hilfst mir, wenn du mich allein lässt“, sagte Arvin.
Und Livia gehorchte.
Kapitel 22
Livia hatte sich in ihrem Leben noch niemals zuvor so heftig gestritten. Und noch niemals zuvor hatte sich ihr ein Streit derart eingeprägt. Er war einfach nicht wieder loszuwerden. Er begleitete sie durch den Tag, schlich sich in ihre Träume und war präsent, wenn sie morgens aufwachte. Mehrfach spielte sie mit dem Gedanken, die Drohung, ihre Sachen zu packen, wahrzumachen. Aber es war keine durchdachte Entscheidung gewesen. Und sie hatte auch nicht die Kraft dazu. Jetzt erst recht nicht mehr …
Am schlimmsten war es, wenn sie Arvin begegnete.
Oder war es am schlimmsten gewesen, als sie das reparierte Fotoalbum zur Hand genommen hatte? Ihr war instinktiv klar gewesen, dass Arvin das Album wieder herrichten würde. Ihr war auch klar gewesen, dass es fast wie vorher aussehen würde. So wie die Vase.
Warum zerriss es ihr dann das Herz, wenn sie es betrachtete? Warum fühlte sie sich derart schuldig?
Es gab keinen Grund dafür. Arvin hatte sich unmöglich benommen. Er hatte sie beleidigt. Grundlos. Sie war sicher, nein, sie wusste , dass sie Arvin nicht betrogen hatte. Selbst wenn sie sich nicht mehr an früher erinnern konnte, fühlte sie doch, dass es nicht stimmte. Aber wie war er zu dieser Überzeugung gelangt? Und wie, bitte schön, konnte sie ihm beweisen, dass er sich getäuscht hatte?
„Arvin behauptet, ich hätte ihn betrogen“, sagte Livia, kaum dass ihr Karen am darauffolgenden Abend die Haustür geöffnet hatte. „Ist er paranoid, oder was?“
Karen öffnete ihren Mund, um etwas dazu zu sagen, schloss ihn dann aber wieder. Livia fand, dass sie krank und eingefallen aussah, hatte aber keine Kapazitäten frei, um das zum Ausdruck zu bringen. „Jetzt sag was dazu“, befahl sie stattdessen.
„Ist das der Grund deines Besuchs?“, erkundigte sich Karen. Sogar ihre Stimme klang müde.
Livia nickte nur.
„Dann würde ich vorschlagen, du kommst erst einmal rein. Wie du dir denken kannst, ist Vanessa noch nicht im Bett.“
Der Beweis für diese Aussage stürmte in diesem Moment auf den Flur und flog mit einem begeisterten Aufschrei in Livias Arme. „Ich hab ein neues Armband“, plapperte sie drauflos. „Hier, guck mal. Mama hat es mir geschenkt. Wir waren auf dem Jahrmarkt. Ich bin Autoscooter gefahren. Und ich hab Fische geangelt. Und Fäden gezogen.“ In ihrem langen weißen Nachthemd sah Vanessa unglaublich süß aus. „Ich durfte alles machen, was ich wollte!“
Das sieht Karen gar nicht ähnlich , huschte es durch Livias Kopf. Soweit sie wusste, verdiente Karen gerade so viel, wie sie zum Leben brauchte. „Alles zu machen, was man wollte“, lag da garantiert nicht drin. „Du hast bestimmt jede Menge Zuckerwatte gegessen. Auf jeden Fall bist du schwerer geworden“, behauptete Livia und hatte wirklich alle Hände voll zu tun, um Vanessa auf dem Arm zu behalten. Zum einen konnte sie ihren rechten Arm sowieso nicht richtig gebrauchen, zum anderen hatten die Handgreiflichkeiten mit Arvin dafür gesorgt, dass die Verletzung wieder schmerzte und zu guter Letzt war Vanessa mit ihren inzwischen sechs Jahren wirklich schon ganz schön groß und schwer. „Soll ich dich vielleicht ins Bett bringen?“, schlug Livia vor.
„Jaaa!“, jubelte Vanessa begeistert, sprang von Livias Arm und zog sie schon im nächsten Moment mit sich fort in Richtung Kinderzimmer.
Die Ablenkung tat Livia erstaunlich gut. Als sie eine gute halbe Stunde später zu Karen ins Wohnzimmer kam, war sie wesentlich entspannter als vorher. Und sie drehte sich nicht mehr ganz so sehr um sich selbst. Als Karen mit Gläsern und einer Flasche Wasser ins Wohnzimmer kam, fiel ihr
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