Als gaebe es kein Gestern
Tränen auf seiner Haut gefühlt haben musste.
Mit dem Ärmel ihres Pullovers wischte sie sie eilig fort.
„Was ist los?“, fragte Arvin zärtlich und besorgt zugleich.
„Ich … ich weiß nicht“, antwortete Livia wahrheitsgemäß. Sie wusste nur, dass sich ihre Hände kalt und tot anfühlten, jetzt, wo sie Arvin nicht mehr berührten. Und dass alles in ihr in Aufruhr geraten war!
„Hey!“, sagte Arvin und legte seine rechte Hand an Livias Wange. Das hatte er schon einmal getan … Mit dem Daumen wischte er eine Träne fort, die noch an ihrer Wange haftete. „Warum weinst du?“
Und dann … sah sie es!
Als könnte es nicht wahr sein, starrte sie auf die kleine weiße Narbe an Arvins linkem Oberarm. Links – genauso, wie Kommissar Walther es vorhergesagt hatte!
„Sag mir doch, was los ist“, bat Arvin.
Die Narbe verschwamm vor Livias Augen, doch spielte das keine Rolle mehr. Sie hatte sich längst wie ein Brandmal in ihr Gedächtnis eingegraben und die Sehnsucht, die eben noch in ihrem Herzen gewesen war, komplett abgetötet. Jetzt war nur noch Schmerz da – ein dumpfer, pochender Schmerz.
Sie stand auf und schüttelte dadurch Arvins Hand ab. „Ent-schuldige“, würgte sie hervor. „Ich muss …“ Sie deutete auf die Tür, stolperte einen Schritt rückwärts, stieß sich am Couchtisch, drehte sich um und flüchtete ohne ein weiteres Wort aus dem Wohnzimmer. Sie schubste noch die Tür ins Schloss, rannte dann aber weiter, als wäre ein irrer Mörder hinter ihr her. Und vielleicht war er das ja auch …
Ohne sich noch einmal umzusehen, stürmte sie durch den Flur bis zur Haustür, vergaß, Jacke oder Schuhe anzuziehen, ließ die Haustür sperrangelweit offen stehen und rannte in die dunkle Nacht hinaus. Ohne Sinn und Verstand hetzte sie bis zur Straße, wandte sich in die nächstbeste Richtung … und lief … lief … lief …
Es dauerte lange, bis sie wieder zu sich kam. Viel zu lange. Als die eisige Kälte endlich von ihren nackten Füßen und ihrem nicht gerade üppig bekleideten Körper bis zu ihrem Gehirn vordrang, war sie schon so weit von zu Hause weg, dass sie nicht mehr genau wusste, wo sie sich befand.
Sie blieb stehen, atmete röchelnd gegen ihren Sauerstoffbedarf an und spürte, wie ihr Herz nur so raste. Sicher war es in mehrerer Hinsicht durcheinandergeraten! Der Gedanke ließ Livia trotz ihres hektischen Atmens aufstöhnen. Arvin war es gewesen. Arvin hatte versucht, sie umzubringen! Nicht nur im Krankenhaus, sondern auch auf der Autobahn und zu Hause! Erst die Übereinstimmung in der Blutgruppe und jetzt auch noch die Narbe! Wie hatte sie nur so gutgläubig sein können?! Bilder aus dem Gefängnis tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Damals hatte er so überzeugend geklungen! Oder hatte er nur gesagt, was er wirklich glaubte? War er am Ende tatsächlich schizophren? Genauso wie Kommissar Walther es vermutet hatte? Sie ließ noch einmal all die Widersprüchlichkeiten Revue passieren, die sie mit Arvin erlebt hatte. Seine Freundlichkeiten, seine Zärtlichkeit und dann wieder seine Spleens und Sonderbarkeiten, die Heftigkeit, mit der er sie zurückgestoßen hatte …
Sie schluchzte auf, fiel auf ihre Knie und begann zu weinen. Fast wünschte sie, er wäre schizophren! Dann gab es vielleicht einen Teil, wenigstens einen Teil von ihm, der sie liebte … und der das war, was sie liebte!
So saß sie da, zusammengekauert im Dreck des Straßenrandes und weinte bitterlich. Wie ein Strom rannen die Tränen ihre Wangen hinunter und wuschen all ihre Hoffnungen fort. Es würde niemals Stabilität oder Liebe in ihrem Leben geben. Niemals!
Irgendwann drang aus der Ferne ein Motorengeräusch zu Livias Ohren vor. Sie erschrak und riss die Augen auf. Und tatsächlich, noch weit entfernt leuchteten ihr die Lichter eines Pkws entgegen. Und er kam auf sie zu!
Livia stöhnte ängstlich auf, krabbelte auf den Knien von der Straße weg und tauchte in den nächstbesten Busch ein. Zweige schlugen in ihr Gesicht, Äste versuchten sie aufzuhalten, aber sie kämpfte so tapfer dagegen an, dass sie im nächsten Moment tief im Inneren des Busches versunken war. Sie konnte das Licht des Pkws jetzt nicht mehr sehen, hörte nur noch, wie er näher kam. Er fuhr langsam, ungewöhnlich langsam, so als suchte er etwas … oder jemanden?
Livia begann, vor Angst zu zittern, und stellte – fast ein bisschen erstaunt – fest, dass sie trotz allem, was geschehen war, leben wollte. Sie wollte leben!
Der Wagen
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