Als gaebe es kein Gestern
fuhr an ihr vorbei, bewegte sich aber immer noch langsam vorwärts. Livia konnte einen kurzen Blick auf ihn erhaschen, doch war es so dunkel um sie herum, dass sie nicht erkennen konnte, ob es Arvins Wagen war. Seine Lichter erleuchteten mehr die Straße als ihn selbst.
Immerhin fuhr er weiter, immer weiter, bis er schließlich in der Ferne verschwunden war.
Inzwischen war Livia so kalt, dass sie nicht mehr nur vor Angst zitterte. Wenn sie hierblieb, in diesem Busch, wenn sie hier einschlief, würde sie morgen vielleicht nicht mehr aufwachen!
Sie kontrollierte noch einmal, dass der Pkw tatsächlich verschwunden war, und befreite sich dann mühsam wieder aus dem Geflecht von Zweigen und Ästen. Als sie sich schließlich auf ihre Füße stellte, zuckte sie vor Schmerz zusammen. Unter ihrem rechten Fuß pochte es heftig. Entweder hatte er im Gebüsch oder auf dem Weg hierher etwas abbekom-
men.
Humpelnd schlug sie die Richtung ein, die sie von dem Pkw wegführte, und beeilte sich vorwärtszukommen. Der Himmel war nicht bedeckt, ein halber Mond und jede Menge Sterne erleuchteten ihren Weg. Theoretisch musste sie sich jetzt auf dem Weg nach Hause befinden, doch war sie sich eigentlich sicher, dass sie genau dorthin nicht wollte. Aber wohin … an wen … sollte sie sich wenden?
An Gunda? Nein, das kam nicht infrage. Wenn sie sich zu Gunda flüchtete, musste sie in die Nähe von Arvin. Und da sie nicht ausschließen konnte, dass er mit dem Wagen auf der Suche nach ihr war, kam diese Richtung nicht in Betracht. Aber wohin dann?
Der Einzige, der ihr jetzt noch einfiel, war Enno. Die Frage war nur, ob sie den entsprechenden Weg finden würde. Sie sah sich um und versuchte herauszufinden, wo sie sich befand. Aber es gab hier weder Straßen noch Schilder. Nur Felder und kleinere Waldstücke.
Sie humpelte tapfer vorwärts, versteckte sich jedoch, wenn Autos an ihr vorbeifuhren. Allerdings hatte sie nicht länger den Eindruck, dass sie verfolgt wurde. Dafür fuhren die Autos einfach viel zu schnell und zielstrebig an ihr vorbei. Nach einiger Zeit gelangte Livia an eine Abzweigung, die ihr bekannt vorkam. Sie vermied den Weg, der nach Hause führte, und hielt sich stattdessen links. Eine Weile irrte sie umher, dann traf sie auf eine Hauptstraße, die sie kannte. Von hier aus konnte sie den Weg zu Enno finden, doch war sie sich nicht sicher, ob es gut war, an einer Hauptstraße entlangzugehen. Sie stellte schnell fest, dass die Straße auch um diese Zeit noch recht stark befahren war, und versuchte deshalb, auf Nebenstraßen, die parallel zur Hauptstraße verliefen, vorwärtszukommen. Dabei verlief sie sich natürlich ein paar weitere Male.
Als sie schließlich völlig durchgefroren und erschöpft vor Ennos Tür stand, gab es nur noch einen einzigen Wunsch in ihrem Herzen: dass er zu Hause war. Sie klingelte Sturm. Die Zeit, in der sie auf eine Antwort wartete, kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Jetzt, wo sie sich nicht mehr bewegte, spürte sie die eisige Kälte des Windes erst richtig. Hinter ihr rauschten die Büsche, die links und rechts neben der Zuwegung gepflanzt waren. Es waren doch die Büsche …?
„Ja?“, kam es schließlich aus der Gegensprechanlage.
Livia musste schlucken und erinnerte sich an ihren letzten unangekündigten Besuch bei Enno. Da hatte er verhalten, aber immerhin nicht verärgert reagiert … „Ich bin’s, Livia“, presste sie hervor. „Kann ich reinkommen?“
Nach ein paar bangen Sekunden surrte der Türöffner und Livia versetzte der Haustür einen verzweifelten Schubs. Dann stolperte sie in den dunklen Hausflur. Sie hörte, wie oben eine Tür aufgeschlossen wurde, und riss abwehrend die Hände vors Gesicht, als das Licht anging.
„Livia?“, rief Enno mit unterdrückter Stimme von oben.
Livia brauchte ein paar Sekunden, bis sie wieder etwas sehen konnte. „Ich komme“, krächzte sie und begann, die Treppenstufen zu erklimmen. Ihre Füße waren mittlerweile zu Eisklötzen zusammengefroren, was immerhin den Vorteil hatte, dass sie ihre Verletzung nicht mehr spürte.
„Wie siehst du denn aus?“, rief Enno, als sie schließlich in Sichtweite kam. Dann blieb sein Blick an ihren Füßen hängen. „Du … du blutest ja!“
„Kann ich reinkommen?“, piepste Livia und blieb unentschlossen vor ihm stehen. In Anbetracht der Tatsache, dass er selbst mal wieder perfekt gekleidet war – wenn auch nicht in Form eines Anzuges, sondern in Form einer Bluejeans und eines grünen Strickpullovers
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