Als gaebe es kein Gestern
sich entschieden. Sie beließ alles, wie es war, nahm nichts mit, nicht einmal die Fotos von Karen oder die Bilder von Vanessa. Es erschien ihr einfach nicht richtig. Sie würde nur das mitnehmen, was sie am Körper trug. Dazu den Zettel in ihrer Hosentasche. Und dann war noch etwas zu tun …
Sie zog ihren Trauring vom Finger, ging zu ihrem Bett hinüber und legte ihn auf ihr Kissen. Eine Weile starrte sie ihn einfach nur an. Dann fuhr sie mit dem Zeigefinger noch einmal den Kreis entlang, den er beschrieb. Obwohl dieser Ring ihr von allen Dingen am meisten bedeutete, konnte sie ihn am wenigsten mitnehmen. Er gehörte einer Fremden. Und er war auch ein Symbol – ein Symbol dafür, dass sie jetzt bereit war, die fremde Identität abzulegen und eine neue anzuziehen.
Bevor sie das Zimmer verließ, ging sie noch einmal zu ihrem Schrank, öffnete ihn und holte zwei Pakete daraus hervor. Beide waren mit Geschenkpapier umwickelt – das eine mit einem einfarbigen dunkelgrünen Papier, das andere mit einem bunten Kinderpapier. Das grüne Paket war quadratisch und hatte eine Seitenlänge von etwa dreißig Zentimetern. Das andere war quaderförmig und ein wenig größer.
Livia nahm die beiden Geschenke und ging damit ins Wohnzimmer.
Als sie die Tür öffnete, stürmten Vanessa und Spike wie zwei Verrückte auf sie zu. Livia schaffte es gerade noch, sich hinzuknien und die beiden Pakete auf dem Fußboden in Sicherheit zu bringen. Dann hatte Vanessa sie bereits erreicht und war auf ihren Schoß gesprungen, wo sie sich verzweifelt an ihr festklammerte. Und auch Spike turnte plötzlich auf ihr herum. „Ihr erdrückt mich ja“, keuchte Livia und erreichte damit, dass zumindest Spike ein bisschen von ihr abließ. Erst schnüffelte er an den Paketen, dann lief er winselnd um Livia und Vanessa herum und stupste sie gelegentlich in die Seite.
„Ich will aber nicht, dass du weggehst“, jammerte Vanessa inzwischen. „Bitte geh nicht weg!“
Livia schluckte und rang um ihre Fassung. Sie hatte ja gewusst, dass es schwer werden würde. Aber so schwer …
Sie sah auf, suchte nach Arvin … und wurde umgehend daran erinnert, dass es richtig war, was sie tat. Arvin hatte sich zwar erhoben, hielt aber Sicherheitsabstand und wirkte dabei wie ein Soldat auf dem Schlachtfeld. Die Haltung aufrecht, der Blick starr, strahlte er eine Gelassenheit aus, die man problemlos mit Gleichgültigkeit verwechseln konnte …
Livia schluckte und vergrub ihr Gesicht an Vanessas Schulter. Schon um des Kindes willen hätte sie eigentlich kämpfen müssen … Aber wofür? Und wogegen? Sie wusste ja gar nicht, wer sie war, was sie erwartete und was sie eigentlich wollte …
Es läutete.
Arvin räusperte sich. „Das werden Lorenzens sein“, sagte er. „Ich geh mal aufmachen.“
Als Arvin den Raum verlassen hatte, durften endlich ein paar Tränen aus Livias Augen fließen. „Ich komm dich besuchen“, flüsterte sie Vanessa zu. „Ganz oft. Versprochen.“
Aber diese Worte hatten nur zur Folge, dass sich Vanessas Ärmchen noch fester um Livias Hals klammerten.
„Und ich hab auch ein Abschiedsgeschenk für dich“, flüsterte Livia. „Damit du mich nicht vergisst …“
„Wie kannst du so was sagen“, schluchzte Vanessa und benetzte Livias Hals dabei mit immer mehr Tränen. „Ich hab Mama nicht vergessen und ich werd dich auch nie vergessen!“
Jetzt war es vollends um Livia geschehen. Die Tränen schossen wie ein Strom aus ihren Augen und raubten ihr das letzte bisschen Sicht. Wie konnte sie Vanessa das alles nur antun?
„Hör mir zu, Vanessa“, flüsterte sie. Und dann löste sie Vanessas Ärmchen mit aller Kraft von ihrem Hals, schob sie ein Stück von sich weg und sah ihr ernst in die Augen. „Hör mir jetzt zu!“ Tatsächlich starrte Vanessa sie aus großen, geröteten Augen an.
„Ich muss jetzt gehen, meine Süße. Ich muss meine Mutter treffen. Wenn ich sie nicht treffe, weiß ich nicht, ob sie so wundervoll ist, wie deine es war. Verstehst du das?“
Vanessa schüttelte den Kopf.
„Du liebst deine Mami doch, oder?“
Vanessa nickte.
„Und du weißt, dass sie dich geliebt hat, nicht wahr?“
Vanessa nickte erneut.
„Und das wirst du niemals vergessen. Das ist hier …“ – sie tippte auf Vanessas Stirn – „…und hier …“ – sie tippte auf Vanessas Herz – „… ganz tief eingebuddelt. Das ist, als ob … deine Mama weiterlebt, solange du weiterlebst. Verstehst du das?“
Vanessa nickte.
„Ich hab so
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