Als gaebe es kein Gestern
gar nicht, wie es mir in den letzten Monaten ergangen ist …“, brach es schließlich aus Livia hervor.
Ihre Mutter blickte nicht einmal auf. Ihre ganze Konzentration gehörte der kaum fingernagelgroßen Scherbe, die sie gerade eben hatte zuordnen können und die sie jetzt von allen Seiten großzügig mit Kleber bestrich. Inzwischen erfüllte schon ein starker Geruch von Lösungsmitteln den Raum. „Das weiß ich doch schon alles, mein Kind. Dieser Kommissar Walther – ein sehr netter Mann übrigens – hat es mir ausgiebig geschildert. Aber wir wollen nicht darüber reden. Was geschehen ist, war furchtbar genug. Lass uns in die Zukunft schauen und das Vergangene vergangen sein lassen.“
Livia blickte entgeistert von ihrer Mutter zu der halb fertigen Tasse und zurück zu ihrer Mutter. Wollte diese Frau wirklich das Vergangene vergangen sein lassen? „Aber ich möchte darüber reden“, protestierte sie. „Die Vergangenheit ist ein Teil von mir! Ich … ich bin nicht mehr die Angelika, die du kanntest. Die Zeit, in der ich nicht wusste, wer ich bin, hat mich geprägt, verstehst du?“
„Es war eine schlimme Zeit, mein Kind, das weiß ich wohl. Aber denkst du nicht, dass du dich am besten wieder einleben kannst, wenn wir über den guten Teil der Vergangenheit sprechen, über die Zeit nämlich, die du hier verbracht
hast?“
Livia zögerte einen Moment. Einerseits war sie nicht bereit, die Zeit, die sie mit Arvin verbracht hatte, schlecht zu nennen. Andererseits war das natürlich ein verführerisches Angebot. Sie wollte ja mehr wissen, mehr über ihre Kindheit, über ihre Eltern, über Jan … und über Henning …
„Erinnerst du dich zum Beispiel an Tante Gertrud?“, fuhr ihre Mutter fort.
Ich erinnere mich an gar nichts , dachte Livia, hatte aber das Gefühl, dass es nichts nützen würde, dies ein weiteres Mal auszusprechen.
„Weißt du noch, wie du mit ihr Schlitten gefahren bist?“ Sie begann zu kichern. „Gertrud hatte die Angewohnheit, immer die steilsten und gefährlichsten Pisten auszusuchen. Einmal seid ihr vom Weg abgekommen und in hohem Bogen im nächstbesten Gebüsch gelandet. Ohne fremde Hilfe wärt ihr da nicht wieder rausgekommen.“
„Wer ist Tante Gertrud?“, erkundigte sich Livia.
Inge hob den Kopf und warf Livia einen etwas mitleidigen Blick zu. „Sie war die Schwester deines Vaters.“
„War?“
Inge Cordes nickte. „Sie ist vor einiger Zeit gestorben. Krebs. Schlimme Sache.“
„Gibt es noch mehr Verwandte?“, wollte Livia wissen.
„Christa, meine Schwester, samt ihrem Mann Helmut und den Kindern Frank und Stephan. Sie wohnen allerdings weit weg. Deswegen haben wir nicht sehr viel Kontakt zu ihnen.“
„Und wer ist Henning?“, hörte sich Livia fragen.
Inges Augenbrauen schnellten in die Höhe. „Du erinnerst dich also doch“, sagte sie und betrachtete Livia so prüfend, als könnte sie ihr hinter die Stirn sehen.
Livia schüttelte den Kopf. „Jan hat mir von ihm erzählt.“
„Jan?“ Inges Gesichtsfarbe wurde innerhalb kürzester Zeit um einige Nuancen roter und dunkler. „Wie ist das denn möglich?“, fauchte sie. „Du bist doch erst seit ein paar Stunden wieder hier!“
„Gibt es einen Henning?“, lautete Livias Gegenfrage.
„Ja, den gibt es. Und ich habe ihn für morgen zum Kaffee eingeladen. Freust du dich?“
„War ich wirklich mit ihm verlobt?“
„Du bist mit ihm verlobt“, korrigierte Inge. „Jedenfalls hoffe ich das …“ Sie seufzte tief und warf Livia einen weiteren abschätzenden Blick zu. „Hoffentlich erkennt er dich überhaupt wieder …“ Sie befeuchtete ihre Lippen. „Und hoffentlich gefällst du ihm noch … Die Augen sind ja so geblieben. Aber der Rest … Das ist ein komplett anderes Gesicht!“
Livia starrte ihre Mutter entgeistert an. Wieso drehte sich hier alles nur um Henning? Wo blieb die Frage, ob sie – Livia oder wenn es sein musste auch Angelika – Henning wiedererkannte und ob er ihr gefiel?
„Du wirst auf jeden Fall das Kleid anziehen, das ich dir oben in deinem Zimmer schon zurechtgelegt habe. Es ist sein Lieblingskleid!“, fuhr ihre Mutter fort.
Oben in deinem Zimmer … hörte Livia nur und witterte endlich einen Rückzugsort. Und so kratzte sie all ihre diplomatischen Fähigkeiten zusammen und sagte: „Vielleicht passt es mir gar nicht mehr …“
„Meinst du?“, erschrak ihre Mutter.
„Was hältst du davon, wenn ich es sofort anprobiere und dir dann Bescheid sage?“
Inge sprang auf und
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