Als gaebe es kein Gestern
Katastrophe. Livia träumte von Schweinen, Kaffeetassen und Corsagenkleidern. Zum Glück fand das alles ein abruptes Ende, als es lautstark gegen ihre Tür trommelte. Livia saß sofort senkrecht in ihrem Bett.
„Aufstehen, die Arbeit ruft!“, rief ihre Mutter auf der anderen Seite der Tür. „Und zieh dich bloß nicht so fein an wie gestern.“ Dann ertönten Schritte, die sich entfernten.
Livia rieb sich die Augen und sah sich verwirrt um. Es war stockfinster in ihrem Zimmer. Und außerdem – eiskalt. Sie zog die Bettdecke ein bisschen höher und sah auf ihre Armbanduhr. Anhand der Leuchtziffern konnte sie erkennen, dass es genau sechs Uhr war. So früh? Einen Moment lang spielte sie ernsthaft mit dem Gedanken, sich wieder hinzulegen. Aber dann siegte ihr Pflichtbewusstsein. Oder war es Angst?
Sie seufzte tief, stieg aus dem Bett, streckte die Hände nach vorn aus und schlug die Richtung ein, in der sie die Eingangstür vermutete. Wenn sie sich richtig erinnerte, befand sich dort irgendwo der Lichtschalter. Sie hatte schon gestern Abend das Problem gehabt, dass sie sich im Dunkeln vom Lichtschalter bis zum Bett hatte tasten müssen.
Ihre nackten Füße fühlten zuerst den flauschigen Bettvorleger und gelangten dann auf das kalte glatte Parkett. Kurz darauf stießen ihre Finger gegen eine Wand … ertasteten den Türrahmen … ja, und den Lichtschalter! Sie schaltete die Deckenlampe an und musste geraume Zeit die Augen zusammenkneifen, so hell war es. Als sie sie endlich wieder öffnen konnte und sich in ihrem Zimmer umsah, fiel ihr einmal mehr auf, wie karg der Raum ausgestattet war. Es gab weder Blumen noch Bilder an der Wand – na ja, abgesehen von dem Stickbild, auf dem ein altes Bauernhaus abgebildet war. Aber ansonsten … keine Poster oder Fotografien an den Wänden, keine hübschen Dinge zum Hinstellen …
Sie beschloss, ihre Eltern danach zu fragen, und öffnete den Kleiderschrank. Sie hatte sich bereits gestern darin umgesehen und festgestellt, dass er nicht übermäßig gut bestückt war. Das graue Kleid war eigentlich das einzige etwas bessere Stück. Ansonsten gab es ein paar Hosen, den einen oder anderen Pullover und natürlich Unterwäsche. Sie zog die Jeans wieder an, die sie mit hergebracht hatte, dazu ein rotes Sweatshirt aus ihrem Kleiderschrank, dann ging sie nach unten in die Küche.
Schon auf dem Weg hörte sie, dass das Radio lief und irgendein sanfter, etwas melancholischer Titel gespielt wurde.
Die Küchentür stand offen. Als Livia in den Türrahmen trat, stellte sie fest, dass die Küche nur spärlich beleuchtet war. Es gab eine gedämpft wirkende Lampe über dem Esstisch und ein etwas helleres Licht unter der Dunstabzugshaube. Dort stand gerade ihre Mutter und öffnete den Deckel irgendeines dampfenden Topfes.
Ihr Vater saß bereits am reich gedeckten Frühstückstisch. Er hatte eine Zeitung vor der Nase und schien angestrengt zu lesen. Zwischendurch führte er eine Tasse Kaffee zum Mund. Auf seinem Frühstücksbrett lag ein Brot mit roter Marmelade.
Livia blieb unschlüssig in der Tür stehen und zählte die Gedecke. Es waren drei. Inge, Dieter und Jan. Und was war mit ihr? Sie räusperte sich. „Guten Morgen“, presste sie etwas unsicher hervor.
„Moin“, antwortete ihr Vater, blickte einmal kurz auf und lächelte ihr zu. Dann vertiefte er sich wieder in die Zeitung.
„Moin“, antwortete auch ihre Mutter. „Willst du ein Ei?“ Sie sprach wie immer Platt.
Livia zählte ein weiteres Mal die Gedecke. „D-darf ich mich denn setzen?“
„Aber selbstverständlich!“, entgegnete ihre Mutter und schüttelte verwundert den Kopf. „Wieso denn nicht?“
„Na ja“, piepste Livia. „Wegen … wegen Jan. Frühstückt er denn nicht mit uns?“
„Offensichtlich nicht“, sagte Inge etwas pikiert.
Livia wartete auf weitere Erklärungen, bekam aber keine. Irgendwann setzte sie sich dann in Bewegung und suchte sich einen Platz. Als sie den entsprechenden Stuhl zurückzog, schabte er lautstark über die Fliesen.
„Wie ist es jetzt mit dem Ei?“, wollte Inge wissen.
„Oh … äh …“ Sie ging im Geiste die Liste durch, die immer noch brav in ihrer rechten Hosentasche knisterte, und sagte dann: „Nein, danke. Darf ich mir Brot nehmen?“
Inge seufzte tief. „Wenn du jetzt um jeden Bissen fragst, wird die Mahlzeit Stunden dauern.“
„Oh … okay …“, stammelte Livia und nahm sich eine Scheibe Weißbrot. Einen Moment lang hatte sie ein schlechtes Gewissen.
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