Als gaebe es kein Gestern
Aber Karen war nicht hier. Und es gab auch gar kein Schwarzbrot, nur Weißbrot und Graubrot! Sie ließ ihren Blick über die Marmeladen schweifen und entdeckte mehrere rote Sorten. Laut Liste mochte sie aber am liebsten helle Sorten! „Gibt es auch Maracujamarmelade?“
Ihre Mutter drehte sich um und starrte erstaunt zu ihr herüber. „Ma … Maracuja?“, fragte sie ungläubig.
„Äh … ja?“, gelang es Livia zu antworten.
„Glaubst du, Maracujas wachsen auf deutschen Sträuchern?“, erkundigte sich Inge.
Livia hob irritiert die Brauen. Sie konnte keinen Zusammenhang zwischen ihrer Bitte und der Frage ihrer Mutter herstellen. „Wahrscheinlich nicht …“
„Und denkst du, dass wir Maracujamarmelade kaufen, wenn wir Hunderte von Himbeer-, Kirsch-, Erdbeer- und Brombeermarmeladen im Keller haben?“
„Oh …“, machte Livia und begriff allmählich. Gleichzeitig fragte sie sich, ob ihre Vorliebe für helle Marmeladen in Wirklichkeit eine Antireaktion auf den Keller ihrer Eltern darstellte. Ob sie sich zumindest auf diese Weise erinnerte? „Welches ist denn die Kirschmarmelade?“
Inge Cordes seufzte tief, kam zum Tisch herüber und stellte nacheinander drei Marmeladengläser vor Livia hin. „Erdbeermarmelade … Himbeermarmelade … Johannisbeergelee … Meinst du, du könntest mit einer davon zufrieden sein?“
„S-sicher“, stammelte Livia und griff willkürlich nach einem der drei Gläser. Anscheinend legte man hier keinen großen Wert auf persönliche Vorlieben.
„Hier, dein Ei“, sagte Inge und stellte einen gefüllten Eierbecher neben Dieters Kaffeetasse.
„Danke“, murmelte dieser. Da er gerade von seinem Brot abgebissen hatte, klang das etwas unverständlich.
Livia fragte sich, ob ihr Vater immer so wortkarg war. „Was gibt’s denn heute zu tun?“, fragte sie ihn.
Dieter Cordes sah auf und antwortete in etwas gelangweiltem Tonfall: „Die Sauen müssen gefüttert werden. Der Tierarzt kommt, um sich die Ferkel anzugucken. Eine der Wärmelampen muss repariert werden. Ein paar Sauen werden umgestallt. Bei dieser Gelegenheit werden die entsprechenden Ställe entmistet und gereinigt … Anschließend müssen die Neugruppierungen eine Zeit lang beobachtet werden. Manche Sauen vertragen sich nicht besonders und fügen sich gegenseitig Bisswunden zu.“
❧
Was heute Morgen nur Theorie gewesen war, wurde im Verlauf des Vormittags zur Praxis. Livia begleitete ihren Vater bei seiner Arbeit und sah zum ersten Mal Deckzentren, Warteställe und Abferkelställe. Sie erfuhr, dass jede Sau, die ihr Vater hielt, im Schnitt fünfundzwanzig Ferkel im Jahr absetzte, dass die Sau einhundertundfünfzig Tage im Jahr trug und dann zumeist zwölf Ferkel zur Welt brachte. Außerdem lernte sie die sogenannte Abruffütterung kennen, ein System, bei dem das Futter mithilfe eines Senders so zugeteilt wurde, dass jede Sau stets die richtige Menge erhielt.
Über alles, was die Sauenhaltung betraf, gab Dieter Cordes bereitwillig, wenn nicht gar freudig Auskunft. Über alle anderen Themen schwieg er sich aus. Insbesondere dann, wenn es um die Vergangenheit ging, um Livia, wie sie früher gewesen war, wurde er regelrecht wortkarg. Und als Livia ihn gar fragte, ob er sie denn vermisst hätte, grummelte er sich irgendetwas in seinen nicht vorhandenen Bart, verschwand um die nächste Ecke und ward plötzlich nicht mehr
gesehen.
Livia stand allerdings nicht allein da. Nellie war den ganzen Vormittag über nicht von Livias Seite gewichen und folgte ihr auch jetzt auf dem Fuße. Gemeinsam liefen sie eine Weile planlos durch die Ställe und begaben sich dann nach draußen. Zumindest hatte Livia jetzt die Gelegenheit, auch mal den hinteren Teil des Hofes zu erkunden.
Dass hier der Herrschaftsbereich ihres Vaters war, konnte man leicht erkennen. Obwohl alles genauso ordentlich und aufgeräumt wirkte wie im vorderen Teil, gab es überhaupt nichts, was an frühere Zeiten erinnerte. Alle Ställe, Maschinen und Werkzeuge waren neu und befanden sich – soweit Livia das überhaupt beurteilen konnte – auf hohem technischen Niveau.
Es war recht kühl und windig draußen und Livia hatte nur eine alte Arbeitsjacke an. Es dauerte daher nicht lange, bis sie zu frieren begann und ihren Rundgang beenden musste. Da es bereits auf zwölf Uhr mittags zuging, machte sie sich wieder auf den Weg ins Haus. In ihrem Bestreben, den gesamten Hof kennenzulernen, steuerte sie jedoch auf einen der Hintereingänge zu. Dort traf sie auf
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