Als gaebe es kein Gestern
vergaß für einen Moment glatt ihre Tasse. „Das ist eine hervorragende Idee. Bis morgen könnten wir es sonst noch ändern!“
Kapitel 46
Livia stand in ihrem Zimmer und war endlich, endlich, endlich allein.
Hatte sie den Tag, der jetzt zum Teil hinter ihr lag, wirklich erlebt? Alles kam ihr so seltsam vor, so als wäre es jemand anderem passiert und nicht ihr.
Das Leben, das angeblich mal ihres gewesen war … An Nellie konnte sie sich ja anscheinend erinnern. Aber es war nicht mehr als ein Gefühl, das sie mit dem Hund verband. Es gab keine Bilder oder Szenen … Schon gar nichts, was in die Realität führte, in der sie sich befand. Keine Erinnerung an Inge, Dieter oder Jan … an dieses Haus, ja, nicht einmal an dieses Zimmer.
Es war ein netter, heller Raum mit zwei großzügigen Veluxfenstern. Was Livia allerdings auf Anhieb störte, war die Tatsache, dass man nur in den Himmel und nicht in die Umgebung schauen konnte. Wo befand sie sich überhaupt? Vorne? Hinten? Sie ging zu einem der Fenster, stellte sich auf ihre Zehenspitzen und versuchte, einen Blick nach draußen zu erhaschen, sah aber nur ein paar Baumspitzen. Seufzend wandte sie sich dem Inneren des Raumes zu. Die Möbel waren schon etwas älter, sie waren allesamt weiß lackiert, dafür aber wuchtig und massiv. Es gab zwei Schrägen. Unter einer der beiden befand sich das Bett, das für Livias Begriffe sowohl schmal als auch kurz wirkte. Aber das war kein Problem, denn diese Beschreibung passte auch auf sie selbst. Auf dem Bett lag das Kleid, von dem ihre Mutter gesprochen hatte. Es war anthrazitfarben und besaß eine Corsage zum Schnüren und einen weiten, wadenlangen Rock. Das war also das Kleid, das „Henning so sehr an ihr mochte“. Warum? Weil es figurbetont war? Oder weil es grau war? Vielleicht liebte er graue Mäuse?
Livia seufzte tief und ließ sich bäuchlings aufs Bett fallen. Dabei machte sie sich nicht einmal die Mühe, das Kleid zur Seite zu legen. Es bedeutete ihr nichts. Wahrscheinlich bedeutete ihr Henning auch nichts. Bedeutete ihr überhaupt irgendetwas irgendetwas?
Sie atmete in das weiche dicke Oberbett hinein, das wahrscheinlich mit Federn gefüllt war, und wusste im Grunde genau, wie die Antwort auf diese Frage lautete, nämlich: Ja. Vanessa bedeutete ihr etwas. Und dem Gesicht nach zu urteilen, das ununterbrochen vor ihrem geistigen Auge auftauchte, bedeutete ihr auch Arvin eine ganze Menge. Er war es, nach dem sie sich sehnte. Nicht dieser Henning. Nur Arvin, Arvin, Arvin. Das Lächeln, das er lächelte, wenn er mit Vanessa spielte. Der tiefe, warme Klang seiner Stimme. Und natürlich der Blick, mit dem er sie angesehen hatte. Nur ein paarmal, aber immerhin …
Sie fragte sich, was er jetzt, in diesem Moment, wohl gerade tat, und sah auf ihre Uhr. Es war halb sieben. Wahrscheinlich aß er gerade mit Vanessa zu Abend. Ob er das Geschenk schon ausgepackt hatte? Ob es ihm gefiel? Ob er verstand, was sie ihm damit sagen wollte?
Aber all das war ihre Vergangenheit und nicht ihre Zukunft. Ihre Zukunft war hier, auf diesem Hof, bei diesen seltsamen Menschen.
Sie seufzte tief und stand wieder auf. Vielleicht gab es in diesem Zimmer ja doch irgendetwas, woran sie sich erinnern konnte …
Sie begann mit dem Schreibtisch, der unter einem der beiden Veluxfenster stand. Im Gegensatz zu den anderen Möbelstücken war er nicht weiß lackiert, sondern hatte eine schlichte graue Kunststoffoberfläche. Stiftehalter, Zettelboxen, Locher, Tacker und ähnliche Büromaterialien standen offen darauf herum. Und drinnen? Rechts gab es einen Rollcontainer.
Sie setzte sich auf den dunklen Bürostuhl und öffnete die oberste Schublade. Da gab es Briefpapier, Blöcke und einige Postkarten. Eine Schublade tiefer fand sie Dinge wie Büroklammern, Radiergummis, einen Füller, ein paar Tintenpatronen … Sie öffnete die unterste Schublade. Sie war leer.
Nichts Persönliches. Nichts, was ihre Erinnerung hätte auffrischen können! Nicht einmal Bücher aus ihrer Ausbildung! Von Kommissar Walter hatte sie erfahren, dass sie nach der Realschule eine Ausbildung zur Bäckereifachverkäuferin gemacht hatte. Nichts mit Floristin oder so was! Im Anschluss an diese Ausbildung hatte sie jedoch nicht in ihrem Beruf gearbeitet, sondern auf dem Hof mitgeholfen.
Die totale Abhängigkeit , dachte Livia und hatte wieder dieses ungute Gefühl, mit dem sie schon hierhergefahren war. Vom Regen in die Traufe?
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Die erste Nacht in ihrem eigenen Bett war eine
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