Als gaebe es kein Gestern
Livia auf. Ihre Mutter hielt ein paar Fotos in der Hand. „Bin … ich das?“, fragte Livia, auf einmal doch interessiert.
Ihre Mutter nickte und begann zu strahlen. Dann hielt sie Livia eines der Fotos hin. „Auf diesem Bild isst du gerade eine riesige Portion Eis. Da warst du … ich weiß nicht so genau … vielleicht zwölf oder dreizehn. Du hast deine Ferien bei Tante Gertrud verbracht.“
Livia pflückte das Bild aus der Hand ihrer Mutter und stürzte sich wie eine Verhungerte darauf. Das Bild zeigte eine größere Gruppe von Menschen, die in einem Eiscafé saßen. „Wer … wer bin ich denn?“, fragte sie verzweifelt.
Inge ging in die Knie, wobei es in selbigen herzhaft knackte. Dann zeigte sie auf ein Mädchen, das so ziemlich in der Mitte des Bildes vor einem riesigen Eisbecher saß. „Na, da. Das Mädchen mit den Zöpfen!“
Livia starrte lange, sehr lange, auf das Kind. Es hatte dunkle Zöpfe und trug ein pinkfarbenes Sweatshirt. Aber weder die Kleidung noch das Kind selbst riefen irgendwelche Erinnerungen hervor! „Ich … erkenn mich nicht wieder …“, sagte Livia. Ihre Stimme klang weinerlich. „Hast du noch mehr Bilder?“
Inge hielt ihr ein weiteres Foto hin. Es zeigte eine Schulklasse mit Kindern im Alter von vielleicht fünfzehn Jahren.
„Bin ich das da?“, fragte Livia und zeigte auf ein Mädchen mit kinnlangen dunklen Haaren.
Inge nickte. „Du erkennst dich also doch!“
„Nein, tu ich nicht!“ Dieses Mal hatte Livias Stimme einen etwas bitteren Klang. „Ich erkenne die Ähnlichkeit zu dem anderen Bild, das ist alles!“
„Und Susanne? Erkennst du die?“
„Wer ist Susanne?“
Inge deutete auf ein Mädchen mit lockigen blonden Haaren, das auf dem Bild freundlich lächelte. „Sie war lange deine Freundin.“
Livia starrte verzweifelt auf das nette Gesicht. Sie musste es doch erkennen! Warum erkannte sie es nicht? „Jetzt auch noch?“
„Hm …“, machte Inge. „Ich weiß nicht so genau … Sie ist lange nicht hier gewesen …“
„Was heißt lange?“
„Keine Ahnung …“, entgegnete Inge langsam. „Also … ein paar Jahre könnten es schon gewesen sein.“
Livia sah ihre Mutter feindselig an. „Und du hast mich niemals gefragt, was aus unserer Freundschaft geworden ist?“
„N-nein … also … eigentlich nicht …“
Livia presste verletzt die Lippen aufeinander. „Mit wem war ich denn sonst befreundet?“, erkundigte sie sich.
Sie erhielt keine Antwort.
Livia seufzte tief, sah zu ihrer Mutter hinüber und sagte leise und voller Enttäuschung: „Du kennst mich überhaupt nicht, stimmt’s?“
Einen Moment lang sah es so aus, als würde Inge protestieren, dann schienen ihr aber die Worte zu fehlen und sie sagte: „Ich hab noch ein Bild!“ Sie hielt es ihrer Tochter hin.
Livia zögerte kurz, nahm es dann aber doch und betrachtete es. Es zeigte ein Mädchen im Alter von vielleicht acht Jahren und einen Jungen von etwa zehn. Beide turnten gerade in einem Baum herum und schienen viel Spaß miteinander zu haben. Auf jeden Fall strahlten sie über beide Wangen und waren genauso dreckig wie zerzaust. Unten neben dem Baum saßen noch ein paar Erwachsene. Livia erkannte ihre Eltern und eine ihr unbekannte Frau.
„Ich nehme an, das bin ich“, sagte Livia und deutete fast schon ein bisschen gelangweilt auf das Mädchen.
Inge nickte. „Und das da ist Stephan, dein Cousin – du weißt schon, einer der beiden Söhne von meiner Schwester Christa und ihrem Mann Helmut.“
„Es gibt kein einziges Bild, das du gemacht hast“, sagte Livia kühl.
Inge schluckte hörbar. „Wir … wir sind keine großen Fotografen, dein Vater und ich …“, rechtfertigte sie sich.
„Habt ihr gelegentlich fotografiert oder nicht?“, verlangte Livia zu wissen.
„Gelegentlich schon …“
„Und wann konkret?“
„Na ja … bei … bei der Einschulung. Da ganz bestimmt. Und bei der Konfirmation auch!“
Livia schüttelte fassungslos den Kopf. „Das ist alles? Darin erschöpft sich euer Interesse an mir?“
„Natürlich nicht. Was redest du nur für einen Unsinn! Seit wann sind Fotos ein Maßstab dafür, wie viel Interesse man an jemandem hat? Außerdem … außerdem … hast du solche Fragen früher nie gestellt!“
„Aber jetzt stelle ich sie“, beharrte Livia. „Also sag es mir. Sag mir, in welcher Form ihr Interesse an mir hattet!“
„In … in welcher Form?“, stammelte Inge. „Na, in … in allen möglichen Formen. Wir haben … dich versorgt
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