Als gaebe es kein Gestern
wandte sich ab und steuerte auf das kleine, rundherum verglaste Wartehäuschen zu, das sich nur wenige Meter von ihr entfernt befand und das im Moment menschenleer war. Es würde sie vor dem Schnee schützen. Auf der kleinen Bank nahm sie Platz.
Karen folgte ihr und setzte sich neben sie. Dann schüttelte sie sich ein paar vorwitzige Schneeflocken aus den Haaren. „Du hast ihm geschrieben?“, fragte sie vorsichtig.
Livia schluckte und war offensichtlich den Tränen nahe. Hilflos blickte sie in der Gegend umher.
„Livia“, flüsterte Karen. „Mir kannst du es doch sagen!“
„Da ist er wieder“, hauchte Livia. Sie starrte entgeistert nach rechts, die Straße entlang.
Karen folgte ihrem Blick, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. „Häh?“
„Der Mann“, flüsterte Livia und schauderte. „Der Mann aus dem Krankenhaus.“
Karen sah ein weiteres Mal die Straße hinunter. Da waren allerhand Männer … „Der mit der Brille?“ Tatsächlich kam ein schlanker Mann mit Brille und Aktentasche auf sie zu.
Aber Livia schüttelte den Kopf. „Nein … der da hinten, der mit der Mütze.“
Karen musste genau hinsehen, um zu verstehen, wen Livia meinte. Ein Mann mit einer Baseballkappe entfernte sich von ihnen. Er war unauffällig gekleidet und auch schon an die dreißig Meter weit weg. „Aber Livia“, wunderte sich Karen. „Er ist schon so weit weg. Du kannst ihn unmöglich wiedererkannt haben.“
„Er hat mich angesehen“, flüsterte Livia. „Nur ganz kurz, aber genauso wie immer. So als wollte er irgendetwas von mir!“
Karen sah zweifelnd hinter der Gestalt des Mannes her. „Meinst du wirklich?“
„Du glaubst mir nicht“, stellte Livia fest und sah ihrer Freundin vorwurfsvoll ins Gesicht. „Du denkst, dass ich spinne.“
„Ich denke, dass du im Moment ein bisschen überfordert bist“, gab Karen zu. „Der bevorstehende Umzug nimmt dich halt ein bisschen mit.“
„Umzug“, wiederholte Livia und wusste einen Moment lang nicht so genau, was nun ihr größtes Problem war. Und welcher Mann ihr am meisten Angst machte. Der Unbekannte oder doch eher Arvin. „Ich will nicht zu Arvin“, jammerte sie.
„Erzähl mir von den Briefen“, nahm Karen den Faden wieder auf.
Livia seufzte abgrundtief. „Ich …“ – ihre Stimme klang belegt – „ich wollte von ihm selbst hören, dass er einverstanden ist … dass ich einziehe, meine ich.“ Und dann brach die Verzweiflung wie ein Vulkan aus ihr hervor. „Aber warum antwortet er mir nicht? Ich hab Tage gebraucht, um diese Briefe zu schreiben. Wie soll ich mit jemandem unter einem Dach leben, der so tut, als gäbe es mich überhaupt nicht?“ Sie schluchzte auf. „Und vielleicht gibt es mich ja auch gar nicht … vielleicht …“ Sie riss die Hände vors Gesicht. „Ich krieg nicht mal die Adresse dieses Zahnarztes. Nicht einmal das!“
Karen sah ihren Ausbruch hilflos mit an. Sie konnte nichts tun, nicht einmal widersprechen.
❧
„Hast du einen Brief von Livia bekommen?“ Karen fiel im wahrsten Sinne des Wortes mit der Tür ins Haus. Sie spazierte an Arvin vorbei, zog ihre Jacke aus und hängte sie an die Garderobe. Dann drehte sie sich zu ihm um. „Nun?“
Arvin antwortete nicht. Stattdessen verschloss er wortlos die Tür, ließ seine Schwester stehen und steuerte auf die Küche zu.
Karen folgte ihm. „Ich will eine Antwort, Arvin.“
„Du bist meine Schwester, nicht meine Mutter“, fauchte Arvin und ließ sich am Küchentisch nieder. Die Küche war im Stil der Siebzigerjahre eingerichtet und machte den Eindruck, als wäre sie seitdem nicht renoviert worden. Die groß gemusterte, in Blau und Weiß gehaltene Tapete löste sich jedenfalls an einigen Stellen bereits von der Wand. Außerdem wirkte sie schmuddelig.
Karen blickte angewidert in den Topf, aus dem Arvin eine Suppe löffelte. Sie roch scharf und würzig. Auf dem Herd stand eine geöffnete Dose, in der sich einmal mexikanischer Bohneneintopf befunden hatte. Karen sah auf ihre Uhr. „Es ist Viertel vor neun“, sagte sie missbilligend. „Ich dachte, du wärst längst fertig mit dem Abendbrot.“
Arvin löffelte seelenruhig weiter seine Suppe.
Karen seufzte, zog mit einem scharrenden Geräusch einen Stuhl vom Tisch und setzte sich. Dann atmete sie einmal tief durch und probierte es mit einem sehr viel freundlicheren Tonfall erneut. „Tut mir leid, Arvin. Ich hab nicht vor, dich zu kontrollieren oder zu bemuttern. Trotzdem möchte ich wissen, ob du Livias Brief
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