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Als gaebe es kein Gestern

Als gaebe es kein Gestern

Titel: Als gaebe es kein Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirsten Winkelmann
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trug aber keine Brille. Außerdem wirkte sein Haar schon ein wenig schütter. Die Mutter war kleiner und ein bisschen untersetzt. Sie trug eine viel zu große, schwarz umrandete Hornbrille. Aber diese Liebe, mit der sie ihr Baby betrachtete …
    Mit einem Mal war es da. Es war nur ein Gefühl, nicht mehr. Kein Bild. Nur das unbestimmte Gefühl von Eifersucht. Sie selbst war nicht so angelächelt worden. Nicht so. Wahrscheinlich hatte es seinen Grund gehabt, dass sie von zu Hause ausgerissen war …
    Um den Gedanken zu verscheuchen, blätterte sie rasch weiter.
    Karen wuchs heran. Sie war ein süßes Mädchen. Dann wurde Arvin geboren. Livia betrachtete seine Babybilder besonders ausgiebig.
    Wenn du mich jetzt sehen könntest , dachte sie zufrieden, wärst du richtig sauer .
    Auch er war ein süßes Kind. Große braune Augen und pechschwarze Haare. Die Flasche … der erste Brei … krabbeln … laufen … Fahrrad fahren … Auf seinem Einschulungsfoto hatte er schon ein bisschen Ähnlichkeit mit dem heutigen Arvin. Jedenfalls wirkten seine Augen genauso ausdrucksstark und seine Statur ähnlich kräftig. Keinesfalls machte es den Eindruck, als wäre ihm der Schultornister noch zu groß.
    Und dann – Livias Herz schlug schneller – kam Spike ins Haus. Ein Geburtstagsgeschenk für Arvin, wie Livia schnell entdeckte. Von dem tapsigen Welpen gab es fast so viele Fotos wie von den Kindern. Er war aber auch zu süß mit seinen weißen Pfoten und dem rabenschwarzen Fell!
    „Er knabbert einfach alles an“, las Livia unter einem der Bilder.
    Noch faszinierender war allerdings Arvins Blick. Auf jedem, aber auch wirklich jedem der Bilder, die ihn gemeinsam mit Spike zeigten, leuchteten seine Augen wie ein Weihnachtsbaum. Er war vernarrt in diesen Hund, das war nicht zu übersehen.
    Livias Blick hingegen wurde eisig. Wollen sehen, wie du auf Spike Nr. 2 reagierst , dachte sie. Wie du damit umgehst, dass er mir gehört, mir ganz allein . Sie hatte keine Angst mehr davor, dass Arvin wütend werden würde. Sollte er doch. Sollte er sie schlagen, wenn er wollte! Alles war besser als diese Gleichgültigkeit, dieses Desinteresse!
    Sie blätterte weiter. Sowohl Arvin als auch Spike wuchsen heran. Es war schon erstaunlich, auf wie vielen Aufnahmen die beiden gemeinsam zu sehen waren. Beinahe machte es den Eindruck, als wäre Arvin mit diesem Hund verwachsen!
    Und dann endeten die Fotos. Einfach so. Mitten im Album.
    Livia runzelte die Stirn, blätterte suchend weiter, stieß aber nur auf leere Seiten. Sie klappte das Album zu und betrachtete die Vorder- und Hinterseite sowie den Rücken, um festzustellen, ob es dort irgendwelche Hinweise gab. Aber da war gar nichts. Sie stellte das Album in den Schrank zurück und suchte nach weiteren Alben. Aber alle, die dort standen, hatte sie bereits angeguckt und andere gab es nicht. Weder in diesem Schrank noch in einem der anderen.
    Ein wenig enttäuscht gab Livia auf. Wieso hatten Karens und Arvins Eltern die Alben nicht fortgeführt? Und überhaupt – wo lebten die beiden jetzt eigentlich? Irgendwann – daran konnte sich Livia noch dunkel erinnern – hatte Karen mal gesagt, ihre Eltern wären weggezogen, aber wohin? Und warum besuchten sie ihre Kinder nie? Und Karen … warum sprach sie so selten über ihre Eltern?
    Was Livia fast noch mehr wurmte, war die Tatsache, dass es keine Bilder von Arvin und ihr gab. Sie hatte so gehofft, dass die Alben weiter in die jüngere Vergangenheit reichen würden, bis zur Hochzeit vielleicht oder sogar darüber hinaus. Wo waren diese Bilder? Arvin war vielleicht nicht scharf auf Fotos gewesen (worauf war er überhaupt scharf?), aber sie selbst, sie hatte doch sicher auf Hochzeitsfotos bestanden, oder?
    Livia stieß einen zutiefst frustrierten Seufzer aus und klappte die Schranktür wieder zu. Dieser Misserfolg war wahrscheinlich die Strafe dafür, dass sie so ungehemmt in Arvins Sachen herumgeschnüffelt hatte. Aber wer konnte es ihr verdenken? Niemand in dieser Familie beantwortete wirklich ihre Fragen. Und sie musste doch schließlich wissen, woraus ihr Leben so bestand, oder etwa nicht? Nicht dass es wirkliche Hoffnung gab, die Scherben kleben zu können …
    Apropos Scherben …
    Livia erinnerte sich an den ursprünglichen Grund ihres Besuches hier im Wohnzimmer und fuhr fort, die Einrichtungsgegenstände zu betrachten. Allerdings öffnete sie jetzt keine Schranktüren mehr, sondern konzentrierte sich auf Gegenstände, die auch so sichtbar waren.

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