Als gaebe es kein Gestern
Arvin vom Hof fuhr, und hörte gleich darauf Schritte an der Haustür. Dann klingelte es.
Livia seufzte tief und erhob sich. Was für eine Erklärung sollte sie sich dieses Mal einfallen lassen? Auf dem Weg zum Flur eilte sie an der Küche vorbei, um nachzusehen, ob Arvin ihren Zettel gelesen hatte.
Er hatte. Der Zettel lag auf dem Küchentisch. Aber er bestand nur noch aus kleinen Schnipseln!
In Livias Bauch baute sich eine Wut auf, die die von gestern noch bei Weitem übertraf. Wie konnte er es wagen? Wie konnte er so überheblich auf ihre Bitte reagieren?
Es klingelte erneut … mehrfach … ungeduldig.
„Ich komme ja schon“, knurrte Livia und beförderte die Schnipsel in den nächstbesten Mülleimer.
Als sie gleich darauf die Haustür öffnete, stand wie erwartet Gunda vor ihr. Allerdings sagte sie kein Wort. Sie stand nur da, mit vorwurfsvollem Blick und verschränkten Armen.
Livia trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Ihr fehlte eine vernünftige Erklärung. Außerdem war ihr gerade ein Schwall kalter Luft entgegengekommen. Es hatte sich anscheinend abgekühlt. Und das nicht nur in ihrem Herzen … „Willst du nicht … erst mal reinkommen?“, schlug sie ein wenig kleinlaut vor.
Gunda schüttelte stumm den Kopf.
„Ich weiß, ich hab’s versprochen“, begann Livia und trat noch einen weiteren Schritt zurück. Ihr Schlafanzug war zwar langärmelig, aber nicht sehr dick. Außerdem waren ihre Füße nackt. „Aber gestern Abend sind mir wieder Bedenken gekommen.“
„Ich hab gehört, wie du da draußen herumgewerkelt hast“, nickte Gunda. Ihr Tonfall war zunächst streng, nahm dann jedoch ihre Enttäuschung auf. „Aber ich hab so gehofft, du würdest nur noch ein paar Verbesserungen vornehmen!“
„Ich weiß“, seufzte Livia und versuchte, den linken Fuß mit dem rechten zu wärmen. „Aber du weißt ja, wie wichtig es ist, dass Arvin das Beet auch gefällt, und mir ist eingefallen …“ Was? Was konnte ihr eingefallen sein?
„Was?“, fragte Gunda erbarmungslos. „Was ist dir eingefallen?“
„Sterne“, kam es Livia in den Sinn. „Gestern Abend ist mir eingefallen, dass Arvin Sterne nicht mag. Wir müssen uns etwas anderes überlegen.“
Gunda schüttelte fassungslos den Kopf. „Sterne“, wiederholte sie. Dieses Mal klang ihre Stimme ein wenig hilflos. „Und wieso ist dir das nicht früher eingefallen?“
„Der Unfall“, gab Livia zurück. „Ich hab halt viel vergessen …“
Gunda starrte sie an. Ihr Blick verriet deutlich, was sie dachte: Der Unfall, richtig … Und dann sagte sie schlicht: „Wenn du das Beet ein drittes Mal zerstörst, bist du auf dich allein gestellt.“
Livia nickte. Sie würde nicht zulassen, dass er das Beet ein drittes Mal zerstörte!
❧
„Gib mal her“, sagte Gunda und griff nach Livias Schaufel. „Man kann ja nicht mit ansehen, wie du dich herumquälst.“
„Lass das!“, protestierte Livia. „Ich bin vielleicht langsamer als du, aber das stört mich nicht. Wenn man mir alles aus der Hand nimmt … und zwar im wahrsten Sinne des Wortes … wird meine rechte Hand nie wieder gesund.“
Gunda ließ die Schaufel los und starrte auf besagte Hand. „Was ist eigentlich mit ihr?“
Livia zuckte die Achseln. „Eigentlich gar nichts. Sie hat bloß nicht die Kraft, die die linke hat.“
„Und das wird sich ändern?“
Livia setzte die Schaufel auf dem Boden ab, wischte sich mit dem linken Handrücken über die Stirn und hinterließ dabei eine Spur aus schwarzem Sand. „Keine Ahnung“, seufzte sie. „Die Ärzte haben gesagt, ich müsse die Hand nur fleißig gebrauchen, dann würde sie bald wieder ganz die Alte. Aber ehrlich gesagt … glaube ich das nicht. Ich hab monatelange Rehamaßnahmen hinter mir. Und jetzt bin ich schon wieder seit Wochen zu Hause. Trotzdem scheint es keine Besserung zu geben.“
„Und? Stört dich das sehr?“
Livia hob die rechte Hand und bewegte nacheinander alle Finger. „Ein bisschen schon. Andererseits … werde ich immer mehr zur Linkshänderin. Ich mache halt das Beste aus meinem Problem. Sogar schreiben kann ich schon mit links!“ Das klang, als hätte sie das Schreiben voll im Griff. Aber das war nicht so. Für die Nachricht, die sie gestern an Arvin geschrieben hatte, hatte sie eine halbe Stunde gebraucht. Und er hatte sie einfach so zerrissen! Wahrscheinlich in einer halben Sekunde … Bei dem Gedanken verfinsterte sich ihr Blick. Dieses Mal würde sie ihm keine Nachricht schreiben. Dieses
Weitere Kostenlose Bücher