Als gaebe es kein Gestern
dass Letzteres der Fall war. Der Boden war ja auch komplett sauber und scherbenfrei. Aber dann fiel ihr Blick auf die Anrichte, auf der die Vase gestanden hatte, und Livia erstarrte. Über lange Sekunden hinweg dachte sie, ihre Fantasie spiele ihr einen Streich. Auf der Anrichte stand die Vase. Genauso groß, genauso grün, genauso hässlich. Und vollkommen intakt! Drehte sie jetzt durch?
Entsetzt ging sie ein paar Schritte vorwärts, näherte sich der Vase und … wusste nicht, ob sie aufatmen oder doch lieber einen Schreikrampf kriegen sollte.
Jetzt, aus der Nähe, sah man sie deutlich … die tiefen Risse, die zeigten, dass diese Vase einmal ein Scherbenhaufen gewesen war. Und da … da waren kleine Stellen im hellen Pastellgrün, die ganz weiß waren. Livia fuhr mit den Fingern darüber hinweg, spürte die scharfen Kanten und begriff, dass ein paar kleine Teilchen ihren Weg nicht wieder zurück an den Ursprungsort gefunden hatten. Und dennoch blieb der Gedanke an einen Haufen von Tausenden kleiner Scherben. Wie um alles in der Welt war es Arvin gelungen, das wieder in Ordnung zu bringen? Oder noch viel wichtiger: Wie lange hatte er dafür gebraucht?
Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass diese Arbeit die ganze Nacht in Anspruch genommen haben musste … Jetzt passte auch alles zusammen … dass er so spät dran gewesen war … so lange geduscht hatte. Das alles hing mit einer durchgemachten Nacht zusammen … wegen einer Vase! Einer alten hässlichen Vase!
Oder hatte sie sich getäuscht?
Ein ungutes Gefühl begann Livia die Kehle zuzuschnüren. Hatte sie etwas furchtbar Wertvolles zerstört? Oder einen Gegenstand, dem ein besonderer, ideeller Wert anhaftete?
Die Besorgnis wurde so groß, dass Livia nicht anders konnte. Sie steuerte auf das Telefon zu und wählte die Nummer des Krankenhauses, genauer gesagt der Entbindungsstation. Bald darauf hatte sie Karen am Apparat.
„Livia“, sagte Karen atemlos. „Ist irgendetwas passiert?“
„Nein, nein“, antwortete Livia ein wenig schuldbewusst. „Ich … äh … wollte nur wissen, ob es bei morgen Nachmittag bleibt.“
„Livia, ich stecke mitten in einer Geburt!“ Karens Ton hätte vorwurfsvoller nicht sein können.
Livia schluckte. Gleichzeitig war ihr klar, dass sie nicht lange um den heißen Brei herumreden konnte. „Die grüne Vase“, sagte sie mutig, „die mit den Blättern … ist die wertvoll?“
„Hast du sie runtergeschmissen?“, erkundigte sich Karen. Ihr Ton war schon etwas sanfter.
Trotz ihres schlechten Gewissens musste Livia schmunzeln. „Könnte man sagen …“
Karen seufzte. „Nein, wertvoll ist sie nicht. Aber ich schätze …“ – sie seufzte tief – „Arvin wird ’ne Krise kriegen.“
„Warum?“
„Weil … weil … ach, das verstehst du nicht.“
„Hat sie einen ideellen Wert?“
„Einen ideellen Wert …“, wiederholte Karen. „Ja, schon.“
„Und warum?“
„Warum, warum“, machte Karen. „Du fragst einem wirklich Löcher in den Bauch. Ich mach dir einen Vorschlag: Ich ruf Arvin einfach an und erklär es ihm. Dann ist er vorbereitet. In Ordnung?“
„Nein!“, rief Livia. „Nein! Die Vase … sie hat … nur einen Sprung. Wenn ich Glück habe, merkt er’s gar nicht. Nicht anrufen, okay?“
„Aber warum denn nicht? Du tust ja fast so, als würde Arvin dich ermorden. So ist er nicht, glaub mir!“
Als Livia Luft holte, um darauf zu antworten, klingelte es an der Tür.
„Erwartest du Besuch?“, fragte Karen, die das Geräusch ganz offensichtlich gehört hatte.
„Eigentlich nicht“, entgegnete Livia und fragte sich, was Gunda jetzt schon wieder wollte. „Besser, ich sehe mal nach.“
„Denk dran, an der Tür kauft man nichts!“
„Ja, Mama“, seufzte Livia. „Aber du rufst Arvin nicht an, okay?“
„Okay“, seufzte Karen. „Bis morgen.“
Als Livia auflegte, fühlte sie sich schon ein bisschen besser. Während sie zur Tür schlenderte, machte sie sich bewusst, dass die Vase auch nicht wertvoller war als ihr Beet. Und wenn man die Mehrarbeit zusammenrechnete, die Arvins Zerstörungen verursacht hatten, kam unter Garantie auch eine ganze Nacht zusammen.
„Hast du was vergessen?“, fragte Livia, als sie die Tür öffnete. Seltsamerweise kam nicht Gunda dahinter zum Vorschein, sondern ein fremder Mann. „Oh“, machte Livia erschrocken.
Der Mann war groß, schlank und sehr gut aussehend. Er trug ein rotes Poloshirt mit einem Krokodil auf der linken
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