Als gaebe es kein Gestern
früher?“
Livia nickte mechanisch. Sie wusste nicht so recht, wie ihr geschah, und entspannte sich kein bisschen, nicht einmal als Enno wenig später das Wohnzimmer verlassen hatte. Ob Arvin damit einverstanden war, dass dieser Enno sich hier wie zu Hause fühlte? Standen sich die beiden derart nah? In den letzten beiden Monaten hatte er Arvin kein einziges Mal besucht! Andererseits arbeiteten die beiden zusammen. Und da Arvin rund um die Uhr arbeitete, gab es wohl keinen Grund für Treffen hier im Haus.
In der Küche klapperte Geschirr. Nur mit Milch – so wie früher? Hatte sie tatsächlich häufiger mit ihm Kaffee getrunken? Sein Verhalten sprach dafür. Aber wenn sie tatsächlich so gut mit ihm befreundet war, wieso hatte er sie dann nicht früher besucht? Und vor allem: Warum war er nie ins Krankenhaus gekommen?
Solche und ähnliche Gedanken beschäftigten Livia, bis Enno mit einem Tablett ins Wohnzimmer zurückkehrte. Ein kräftiger Kaffeeduft begleitete ihn. Auf dem Tablett standen zwei Tassen mit Untertassen und ein Teller mit Schokoladenkeksen. Bei ihrem Anblick errötete Livia ein wenig. Sie hatte die Kekse vor ein paar Tagen zusammen mit drei weiteren Packungen gekauft. Dabei wusste sie genau, dass Karen nicht damit einverstanden gewesen wäre. Das Schlimmste war, dass diese Packung als einzige noch übrig geblieben war. Die anderen Kekse hatte sie schon gestern und vorgestern aufgegessen …
Enno stellte das Tablett auf dem Couchtisch ab und reichte Livia die Tasse mit dem dampfenden Kaffee. Milch war schon drin.
„Danke“, sagte Livia und schielte auf die Kekse.
Enno war ihrem Blick gefolgt und schob ihr jetzt den Teller hin. „Nimm dir welche“, ermunterte er sie. Und dann grinste er. „Es sind sowieso deine.“
„Ich weiß …“, druckste Livia herum. „Aber ich … na ja … darf nicht so viele Süßigkeiten naschen.“
„Warum nicht?“, wunderte sich Enno. „Du bist furchtbar dünn … sogar dünner als früher.“ Er sah sie einen Moment lang prüfend an und sagte dann: „Und das ist nicht der einzige Unterschied zu früher.“
Livia horchte auf. „Was meinst du?“, fragte sie verunsichert.
Enno schürzte die Lippen. Es schien ihm ein wenig unangenehm zu sein, dass er dieses Thema angeschnitten hatte. „Es gibt ziemlich viel Gerede, Livia“, begann er schließlich.
„Was für Gerede?“
„Man erkennt dich kaum wieder, weißt du? Es gibt Leute, die … na ja … ernsthaft bezweifeln, dass du wirklich Livia bist!“ Bei diesen Worten machte er ein Gesicht, als würde er jeden Moment Prügel beziehen.
Aber Livia zuckte nur gleichgültig die Achseln und nahm einen Keks vom Teller. „Mit diesem Thema bin ich durch“, sagte sie und biss genussvoll davon ab. Das krachende Geräusch, das sie dabei hervorrief, wirkte so appetitanregend, dass auch Enno einen Keks vom Teller nahm. „Wenn ich nicht Livia wär“, fuhr Livia mit vollem Mund fort, „wo ist dann Livia? Und wer vermisst eine Frau wie mich? Außerdem hatte ich hier im Haus schon mehrfach den Eindruck, dass mir Dinge bekannt vorkommen.“
„Im Ernst, ja?“, staunte Enno. „Heißt das … du beginnst dich zu erinnern?“
„Ich weiß nicht“, überlegte Livia und stibitzte sich einen weiteren Keks. „Ein bisschen vielleicht …“
„Auch an Arvin?“, erkundigte sich Enno.
Livia sah ihn nachdenklich an. Einerseits war sie sich nicht sicher, ob es überhaupt erstrebenswert war, sich an Arvin zu erinnern, andererseits gab es auf einmal ungeahnte Möglichkeiten … „Hat er mich jemals geliebt?“, hörte sie sich fragen.
Ennos Mund öffnete sich wie von selbst, doch er gab keinen Ton von sich. Entgeistert starrte er Livia an.
„Tut mir leid“, seufzte Livia und rieb sich verlegen über die taube Stelle an ihrer Stirn. „Das kam ein bisschen plötzlich, nicht wahr? Du musst mir nicht antworten.“
„Ich … äh …“, stammelte Enno, „weiß wirklich nicht …“
„Wie gesagt … es ist in Ordnung.“ Aber war es das wirklich?
Enno antwortete nicht und nahm stattdessen einen großen Schluck aus seiner Kaffeetasse. Als er sie auf den Untersetzer zurückstellte, gab sie ein leises Klirren von sich. Seltsamerweise ließ dieses Geräusch die Stille zwischen ihnen noch schwerer wirken.
„Vielleicht“, krächzte Livia schließlich, „vielleicht kannst du mir wenigstens sagen, ob ich ihn geliebt habe.“
Enno schluckte schwer und starrte auf seine Kaffeetasse. „Sonst hättest du ihn nicht
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