Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als gaebe es kein Gestern

Als gaebe es kein Gestern

Titel: Als gaebe es kein Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirsten Winkelmann
Vom Netzwerk:
es Arvin einfach nicht zuzumuten sei. Es gab deshalb häufig Streit.
    Bei Enno war das anders. Er schien alles in Ordnung zu finden, was sie tat. Seit er wusste, dass sie Zuckerzeug liebte, brachte er ihr bei jedem Besuch etwas Leckeres mit. Er kam regelmäßig, bestimmt dreimal die Woche. Und seine Besuche taten ihr gut. Sie tranken zusammen Kaffee, plauderten und sprachen über alte Zeiten. Obwohl Livia nicht wirklich viel Neues erfuhr, war das zumindest eine kleine Brücke zu ihrem früheren Ich.
    Was sie ein bisschen störte, war die Heimlichtuerei. Enno bestand darauf, dass sie niemandem von seinen Besuchen erzählte. „Arvin kriegt immer gleich ’ne Krise und vermutet, dass ich meinen Job schleifen lasse“, hatte er gesagt. „Seit es der Firma nicht mehr so gut geht, dreht er völlig am Rad.“
    Nun, mit Arvin sprach Livia sowieso nicht. Aber sie hätte gern Karen von Enno vorgeschwärmt. Er war freundlich und konnte lustige Geschichten erzählen. Außerdem interessierte er sich für sie. Ja, wirklich! Er sprach nicht nur über sich selbst, sondern wollte alles wissen, was Livia betraf. Wenn sie traurig war, bekam er es mit. Wenn sie sich freute, entlockte er ihr die Gründe dafür. Und wenn es Dinge gab, die einen Hauch von Erinnerung in ihr zu wecken schienen, setzte er alles daran, sie in ihrer Suche zu unterstützen. Niemand sonst hatte das bisher getan. Nicht einmal Karen. Manchmal kam es Livia sogar so vor, als hätte Karen gar kein wirkliches Interesse an der Vergangenheit, als wollte sie gar nicht, dass die alte Livia zurückkehrte.
    Aber dafür gäbe es keinen Grund, hatte Enno ihr versichert. Er hatte die alte Livia als einen angenehmen, attraktiven und lebensfrohen Menschen beschrieben, den man gern zurückhaben wollte.
    Enno war nett, sehr nett sogar.
    Und doch …
    Livia seufzte tief.
    Enno war Enno. Ein Freund. Aber Arvin war ihr Mann. Und ihre Vergangenheit – das war doch klar – lag bei Arvin, nicht bei Enno. Und sie konnte nicht ruhen, nicht weiterleben, solange sie nicht wusste, was vorgefallen war.
    Und deshalb …
    Livia warf ihren Blumen einen letzten, liebevollen Blick zu und flüsterte: „Lebt wohl, meine Schäfchen. Ich werfe euch dem Wolf zum Fraß vor.“
    Und dann ging sie mit gesenktem Kopf ins Haus zurück, steuerte auf das Wohnzimmer zu und stand bald darauf vor der Vase, die Arvin erst vor Kurzem aus den Scherben zurück ins Dasein gerufen hatte.
    Diese Vase … – Livia streckte die Hand danach aus und fuhr mit den Fingerkuppen über die stumpfe und etwas raue Oberfläche – … diese Vase war nicht mehr das hässliche grüne Etwas, das sie damals darin gesehen hatte. Im Gegenteil. Auf irgendeine seltsame Weise schien sie ihr das Wertvollste zu sein, was dieses Haus zu bieten hatte. Arvins Zeit steckte darin, seine Liebe …
    Bei dem Gedanken bildete sich ein dicker Kloß in Livias Hals. Arvins Liebe sollte ihr gehören, seiner Frau. Nicht diesem Gegenstand!
    Sie nahm die Vase von der Anrichte und betrachtete die feinen weißen Risse. Was hinderte sie daran, die Vase ein zweites Mal fallen zu lassen?
    Aber ein paar Sekunden später stellte sie das grüne Ding mit einer ärgerlichen Bewegung und einem klappernden Geräusch auf die Anrichte zurück. Sie brachte es einfach nicht übers Herz! Stattdessen sah sie sich kurz im Wohnzimmer um, steuerte auf die andere Seite zu und näherte sich lauernd dem wuscheligen Teddybären, der mit kleinen glitzernden Augen auf dem Kaminsims saß. Einen Moment lang verlor sie sich in seinem Blick und hatte das Gefühl, als würde er sie vorwurfsvoll ansehen. Und als sie ihn dann in die Hand nahm, protestierte er auch noch mit einem Mitleid erregenden Jammern. Livia schauderte. Fast hatte sie das Gefühl, als würde dieses Ding Arvin repräsentieren …
    „Es ist nur ein Gegenstand!“, erinnerte sie sich.
    Und dann presste sie ihre Lippen fest zusammen, klemmte sich den Körper des Teddys zwischen die Beine, packte den Arm des Bären und zog ihn mit einer ruckartigen Bewegung in die Höhe. Sie hatte den Arm umgehend in der Hand. Und auch die anderen Gliedmaßen leisteten so gut wie gar keinen Widerstand. Livia riss sie alle heraus. Dabei hatte sie einen harten, unbarmherzigen Zug um ihren Mund. Was allerdings überhaupt nicht zu diesem Gesichtsausdruck passen wollte, waren die Tränen, die jetzt aus ihren Augen fielen. Doch gab sie kein Geräusch von sich, sondern arbeitete verbissen weiter. Im Inneren des Teddybären stieß sie auf eine

Weitere Kostenlose Bücher