Als gaebe es kein Gestern
Füllung aus Heu, die sie jetzt gnadenlos aus dem Kuscheltier herauspulte. Ein etwas staubiger Geruch wie aus einer alten, längst vergangenen Zeit stieg ihr in die Nase. Doch auch das konnte sie nicht abhalten. Als sie schließlich nur noch eine schlaffe Hülle in der Hand hielt, stand sie auf, holte aus der Küche eine Schere und begann dann, das Fell des Teddys zu zerschneiden. Dieses Mal würde es keine Reparatur geben, dafür würde sie sorgen.
„Vielleicht sagst du mir jetzt, weswegen du mich hasst“, flüsterte sie, als alle Arbeit getan war.
Und dann verteilte sie die Stoff- und Heuschnipsel weiträumig auf dem Fußboden und ging erst einmal zu Gunda nach drüben. Sie brauchte dringend ein bisschen Gesellschaft.
Unglücklicherweise hatte Gunda nur begrenzt Zeit. Manfred und sie hatten Karten für eine Oper und komplimentierten Livia bereits um Viertel nach sechs wieder zur
Tür hinaus. Dabei wäre sie gerade heute gern bis zehn geblieben …
Als sich Livia dem Haus näherte, stellte sie überrascht fest, dass aus dem Briefkasten, der rechts neben der Eingangstür an der Hauswand befestigt war, ein Umschlag herausragte. Das war seltsam, schließlich kam die Post immer morgens, außerdem hatte sie den Briefkasten heute schon geleert.
Sie machte sich nicht die Mühe, den Briefkastenschlüssel zuhilfe zu nehmen, sondern hob nur ein wenig die Klappe des Briefschlitzes an und zog den Umschlag heraus. Es war ein gewöhnlicher, weißer Din-A6-Umschlag – nicht beschriftet, aber dennoch zugeklebt.
Livias Herz schlug ein wenig schneller. Ob der Brief von Arvin stammte? War es möglich, dass er hier vorbeigekommen war, ohne dass sie etwas davon mitbekommen hatte? Und dass dieser Brief bereits eine Reaktion auf den kaputten Teddy war?
Sie riss den Umschlag so hastig und so ungeschickt auf, dass er völlig zerfetzt wurde. Sein Inhalt, ein schlichter weißer Din-A4-Zettel, blieb allerdings intakt. Als Livia ihn auseinandergefaltet hatte, las sie nicht mehr als einen einzigen Satz: „Ruf mich endlich an! T.“
Livia schluckte schwer und musste nicht lange überlegen, wer diese Botschaft verfasst hatte. „Ruf mich an!“, das hatte der Mann mit der Baseballkappe zu ihr gesagt! Und er kannte nicht nur ihren Namen, sondern auch ihre Adresse!
Livia wirbelte herum und blickte sich mit großen, vor Angst geweiteten Augen um. Ob er immer noch in der Nähe war?
Ihre zitternden Finger tasteten wie von allein nach dem Hausschlüssel, kramten ihn hektisch aus der Hosentasche hervor, ließen ihn mit einem klirrenden Geräusch fallen, hoben ihn wieder auf … und bekamen ihn kaum ins Türschloss. Immer wieder sah sich Livia dabei nach hinten um. Sie fühlte sich bedroht! Und sie konnte nichts dagegen tun! Nicht einmal anrufen konnte sie! „T.“ – wer sollte das sein? Welcher Name steckte dahinter? Und wie lautete seine Telefonnummer?
Als Livia die Haustür endlich aufbekam, stürzte sie in den Flur, warf die Tür hinter sich zu und schloss wieder ab. Aber auch danach gönnte sie sich keine Ruhe. Zuerst suchte sie das gesamte Haus nach einem möglichen Eindringling ab. Erst als sie ganz sicher sein konnte, dass niemand im Haus war, beruhigte sie sich ein wenig.
Von da an zog sich der Abend wie Kaugummi dahin. Einerseits sehnte Livia Arvins Rückkehr herbei, weil sie sich dann sicherer fühlen konnte. Andererseits hatte sie Angst vor ihm und seiner Reaktion auf den kaputten Teddy. Hätte sie das bloß gelassen! Man musste sich doch nicht die ganze Welt zum Feind machen, oder? Sie fragte sich, wie Arvins Reaktion ausfallen würde. Was war ihm zuzutrauen? Gunda und Manfred befanden sich nicht in der Nähe. Wen also sollte sie rufen, wenn Arvin komplett ausrastete?
In ihrer Not rief sie Enno an, hatte dann aber nicht den Mut, ihm den Grund ihres Anrufs zu nennen. Als sie wieder aufgelegt hatte, fühlte sie sich wie ein kompletter Feigling. Die Stofffetzen zu ihren Füßen waren ein passendes Bild für ihre eigene Entschlossenheit …
Als es schließlich auf zehn Uhr zuging, hatte Livia sechsmal zwischen dem Wohnzimmer und ihrem eigenen Zimmer hin- und hergewechselt. Inzwischen hatte sie sich ein wenig von dem Schock des Briefes erholt. Und sie erinnerte sich daran, dass sie die Konfrontation mit Arvin eigentlich wollte. Wie sonst sollte sie herausfinden, was die eigentliche Ursache für Arvins Hassgefühle war? Aber dann wiederum fürchtete sie sich so sehr, dass sie nur hinter der verschlossenen Tür ihres Zimmers,
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