Als gaebe es kein Gestern
runtergeholt. Und das war längst nicht so einfach, wie es klingt. Ich war ja nicht dabei, hab mir die ganze Geschichte aber von mehreren meiner Kolleginnen erzählen lassen. Du warst damals noch ziemlich verwirrt, Livia. Unten hatte sich eine Menschentraube gebildet, auf die du zugegangen bist. Irgendwann standest du direkt am Abgrund. Und dann hat dieser dusselige Polizist …“ Sie stockte plötzlich, warf Herrn Walther einen entschuldigenden Blick zu und fuhr dann fort: „Der Typ aus dem Streifenwagen wusste wohl auch nicht, was er tun sollte. Er hat ein Megafon benutzt, um mit Livia zu reden. Aber das war genau das Falsche. Livia hat sich so erschrocken, dass sie das Gleich-
gewicht verlor. Wenn Arvin sie nicht festgehalten hätte …“
„Da war also eine Menschentraube“, resümierte Livia unbeeindruckt. „Dann hat Arvin mich wahrscheinlich gerettet, weil er so viel Publikum hatte.“
„Unsinn!“, fauchte Karen. Und dann hob sie verzweifelt die Hände. „Wenn du dich nur erinnern könntest, Livia. Nach Aussage meiner Kolleginnen hat Arvin einen filmreifen Spurt hingelegt, der ihn fast sein eigenes Leben gekostet hätte. Das Krankenhaus spricht heute noch davon!“
Livia verschränkte die Arme vor der Brust. „Mir kommen gleich die Tränen …“ Sie erntete einen vernichtenden Blick von ihrer Schwägerin.
Kommissar Walther nutzte die Gelegenheit. „Ich weiß immer noch nicht, was es mit diesem Traum auf sich hatte …“
Livia seufzte tief. „Ich eigentlich auch nicht mehr so richtig“, gab sie zu. „Schließlich habe ich monatelang versucht, mir einzureden, dass ich es nicht wirklich erlebt habe.“ Sie warf Karen einen vorwurfsvollen Blick zu. „Es passierte hier im Krankenhaus.“ Livias Blick verfing sich im weißen Krankenhausbett. „Ich weiß noch, dass ich schlief. Und ich kann Traum und Wirklichkeit bis heute nicht richtig auseinanderhalten. Aber damals war ich fest davon überzeugt, dass jemand versucht hat, mich umzubringen. Ich nehme an, dass dieser Jemand versucht hat, mir ein Kissen aufs Gesicht zu drücken. Irgendwie konnte ich ihn abwehren.“
„Ihn?“, fragte Herr Walther.
Livia zuckte die Achseln. „Dieser Jemand hatte Kraft. Aber das ist auch schon alles, was ich Ihnen dazu sagen kann. Es war Nacht und stockfinster …“
„Und Sie?“, wandte sich Kommissar Walther an Karen. „Können Sie mir sonst noch irgendetwas zu diesem Thema sagen?“
Karen schüttelte den Kopf, doch hatte Livia das unbestimmte Gefühl, dass sie sich in diesem Moment nicht wirklich wohl in ihrer Haut fühlte. „Bist du sicher?“, fragte Livia denn auch.
„Natürlich bin ich sicher!“, fauchte Karen. „Oder bin ich jetzt die Nächste, die du verdächtigst?
Livia starrte sie an, antwortete aber nicht. Was hätte sie auch sagen sollen? Karen hatte ihren wundesten Punkt getroffen. Sie wusste schon lange nicht mehr, wem sie wirklich trauen konnte …
Kapitel 20
Als Livia nur wenige Stunden später neben Karen auf der Rückbank eines Taxis saß und endlich auf dem Weg nach Hause war, versuchte sie immer noch, sich über genau diesen Punkt klar zu werden. Wem traute sie eigentlich noch? Traute sie Karen? Sie betrachtete ihre Schwägerin vorsichtig von der Seite und fand, dass sie ihr zunehmend fremd geworden war. Sie hatte Geheimnisse. Dunkle Geheimnisse. Mit Enno. Und auch optisch war sie nicht mehr dieselbe. Sie hatte abgenommen. Ja, sie wirkte regelrecht ausgemergelt. Oder täuschte das? Livia wusste es nicht. Sie wusste gar nichts mehr. Seit sie mit Enno befreundet war, war ihre Beziehung zu Karen deutlich abgekühlt. Obwohl sie sie noch immer fast jeden Sonntag besuchte, drehten sich ihre Gespräche in letzter Zeit immer mehr um Belanglosigkeiten. Vielleicht war es ja auch gar nicht so, dass sie Karen misstraute. Vielleicht war es umgekehrt und Karen misstraute ihr ?
Und wie sah es mit Arvin aus? Traute sie ihm? Oder anders ausgedrückt: Traute sie Arvin wirklich einen Mordversuch zu? Karen tat das offensichtlich nicht, aber das brachte sie nur zu der ursprünglichen Frage zurück: Wie vertrauenswürdig war Karen?
An dieser Stelle stieß Livia einen so herzergreifenden Seufzer aus, dass Karen zu ihr herüberblickte. „Alles in Ordnung?“
„Wie man’s nimmt“, entgegnete Livia und starrte auf den Lkw, hinter dem sie schon seit geraumer Zeit herfuhren. „Seit heute weiß ich, dass mir irgendjemand nach dem Leben trachtet. Meine einzige Freundin sagt mir nur bedingt die
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