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Als Gott ein Kaninchen war

Als Gott ein Kaninchen war

Titel: Als Gott ein Kaninchen war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Winman
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»Marineblau« nannte es meine Mutter; ein marineblauer Himmel. Sie machte das Radio an. Die Carpenters mit » Yesterday Once More«. Sie blickte wehmütig drein, sogar traurig. Mein Vater war gerufen worden, um einem Gauner Rechtsbeistand zu leisten und ihm Optionen aufzuzeigen, von dem so mancher behaupten würde, er habe sie nicht verdient. Meine Mutter fing an zu singen. Sie stellte den Sellerie und die Strandschnecken auf den Tisch und auch die gekochten Eier– meine Leibspeise–, die geplatzt waren und nun Muster auf meinem Teller zogen.
    Mein Bruder kam aus der Badewanne und setzte sich neben mich, glänzend und rosa vom dampfenden Wasser. Ich sah ihn an und sagte » lächeln«, und wie aufs Stichwort grinste er, und da, mitten in seinem Mund war es, das dunkle Loch. Ich fütterte ihn durch das Loch mit einer Schnecke.
    » Lass das, Elly!«, schnauzte meine Mutter und schaltete das Radio aus.
    » Und du«, sagte sie und zeigte auf meinen Bruder, » ermutige sie nicht noch.«
    Ich sah, wie sich mein Bruder vorbeugte und sein Spiegelbild in der Hintertür betrachtete. Diese neuen Wunden gingen mit seinem neuen Ich einher. Die Landschaft, die nun in seinem Gesicht lag, hatte etwas Heldenhaftes, und das gefiel ihm. Sanft berührte er die Schwellung an seinem Auge. Meine Mutter knallte einen Becher Tee vor ihn hin und sagte nichts; eine Aktion, deren einziger Zweck darin bestand, sein stolzes Grübeln zu unterbrechen. Ich griff nach einer weiteren Strandschnecke, spießte sie mit der Spitze meiner Stecknadel auf und versuchte, ihren sich ausrollenden Körper aus der Muschel zu ziehen, aber sie widersetzte sich. Es war, als klammere sie sich fest, was komisch war, denn sogar im Tod schien sie zu sagen » Ich lass nicht los«. Lass nicht los.
    » Wie fühlst du dich?«, erkundigte sich meine Mutter.
    » Ganz okay«, erwiderte ich.
    » Nicht du, Elly.«
    » Mir geht’s gut«, sagte mein Bruder.
    » Ist dir auch nicht übel?«
    » Nein.«
    » Schwindelig?«
    » Nein.«
    » Du würdest es mir sowieso nicht sagen, stimmt’s?«, meinte sie.
    » Nein«, sagte er und lachte.
    » Ich möchte nicht, dass du weiter Rugby spielst«, sagte meine Mutter unwirsch.
    Mein Bruder sah sie ungerührt an und sagte: » Mir ist egal, was du willst, ich spiele weiter«, und er nahm seinen Tee und trank drei große Schlucke, die ihm den Mund verbrannt haben mussten, aber er ließ sich nichts anmerken.
    » Es ist einfach zu gefährlich«, sagte sie.
    » Das Leben ist gefährlich«, sagte er.
    » Ich kann das nicht mitansehen.«
    » Dann lass es. Aber ich spiel trotzdem, weil ich mich nie lebendiger gefühlt habe oder mehr ich selbst. Ich war noch nie so glücklich«, und damit stand er auf und verließ den Tisch.
    Meine Mutter drehte sich zur Spüle und wischte sich über die Wange. Vielleicht eine Träne? Mir wurde bewusst, dass der Grund dafür der war, dass mein Bruder noch nie das Wort »glücklich« benutzt hatte, um sich selbst zu beschreiben.
    *
    Ich brachte Gott zu Bett und versorgte ihn mit seinem üblichen Gute-Nacht-Snack. Sein Stall stand jetzt auf der Terrasse, vor dem Wind geschützt durch den neuen Zaun, den die Nachbarn aufgestellt hatten: Die Nachbarn, die nach Mr Golan eingezogen waren, und die wir nicht besonders gut kannten. Manchmal dachte ich, ich könne noch immer sein Gesicht durch die Zaunbretter spähen sehen, seine bleichen Augen, die so durchscheinend waren wie die eines Blinden.
    Ich setzte mich auf den kalten Terrassenboden und beobachtete, wie Gott sich in seiner Höhle aus Zeitungspapier bewegte. Ich zog die Decke, die ich mitgenommen hatte, fester um meine Schultern. Der Himmel über mir war dunkel und unermesslich und leer, und kein Flugzeug störte seine düstere Stille, nicht einmal ein Stern. Die Leere konnte ich nun auch in mir spüren. Sie war ein Teil von mir, wie eine Sommersprosse oder ein blauer Fleck. Wie ein zweiter Name, den keiner zur Kenntnis nahm.
    Ich steckte meinen Finger durch den Maschendraht und berührte seine Nase. Sein Atem war leicht und warm. Seine Zunge beharrlich.
    » Dinge vergehen«, sagte er leise.
    » Hast du Hunger?«
    » Ein bisschen«, sagte er, und ich schob eine Karotte durch das Gitter.
    » Danke«, sagte er. » Schon viel besser.«
    Zuerst dachte ich, es sei ein Fuchs, das Schnüffeln, das Rascheln von Blättern. Ich griff nach einem alten Kricketschläger, der seit dem letzten Sommer draußen herumlag. Ich ging auf das Geräusch zu, und als ich am hinteren Zaun

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