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Als Gott ein Kaninchen war

Als Gott ein Kaninchen war

Titel: Als Gott ein Kaninchen war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Winman
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einmal meinem Vater gehört hatte) rutschte ihm hoch bis zur Leistenbeuge und enthüllte Beine in der Farbe und Beschaffenheit von Knochen. Ich hatte seine Beine noch nie zuvor gesehen. Sie wirkten, als hätten sie ein anderes Leben gelebt. Sie wirkten unschuldig.
    Das Alter hatte ihm noch nicht viel anhaben können, und er weigerte sich noch immer, den Zeitpunkt und die Umstände seines Scheidens aus der Welt zu verraten. Morgens saß ich meistens mit ihm am Fluss und sah ihm dabei zu, wie er zum anderen Ufer hinüberblickte, als würde der Tod ihm von dort aus zuwinken wie ein neckischer Freund, dem er zulächeln würde. Und sein Lächeln hieß eher » Heute nicht« als » Ich bin noch nicht soweit«.
    Sein Wissen hatte ihn von der Angst befreit, uns jedoch die Last des Wartens auferlegt. Würde er uns vorwarnen? Würde er ganz plötzlich aus unserem Leben verschwinden, um uns vor dem ultimativen Verlust zu bewaren? Würden wir unsere makabre Rolle in seinem letzten Akt spielen? Wir hatten keine Ahnung. Und wäre da nicht die kleine Bewegung seines Fußes gewesen, als ich husten musste– ich hätte gedacht, es habe ihn hier und jetzt erwischt, in diesem nach oben gewandten Zustand eines flügellosen Engels, der unerwartet kopfüber auf die Erde gestürzt war.
    Auf dem Weg nach unten warf ich einen Blick in Gingers Zimmer, konnte aber nur ihren kahlen, in die Kissen geschmiegten Kopf erkennen, der aussah wie ein liegengebliebenes Ei. Sie atmete geräuschvoll, versunken in tiefem Schlaf. Sie hatte gerade ihre gute Phase, die Phase zwischen den Chemotherapien, in der sie Kraft und Spaß hatte, nur keine Haare.
    Die letzte Behandlung war brutal gewesen. Für die knapp fünfhundert Meter vom Krankenhaus bis zu Nancys Haustür hatte man ein Taxi gebraucht, und ihr Kopf lehnte am Rahmen des offenen Fensters, weil sich ihr Magen bei jeder Unebenheit umdrehte. Sie saß gern auf dem Balkon, eingewickelt in eine Daunendecke, die sie nur notdürftig vor der Kälte schützte. Dort schwankte sie zwischen Wachsein und Schlaf, ohne sich auf mehr zu konzentrieren als die gelegentliche Tasse Tee, die sie nun mit viel Zucker trank.
    Ich betrat leise ihr Zimmer und hob die Strickjacke auf, die auf den Boden gefallen war. Meine Mutter legte ihr jeden Morgen etwas zum Anziehen heraus, denn Entscheidungen zu treffen, fiel ihr immer schwerer und versetzte sie geradezu in Panik. Nur meine Mutter hatte das bemerkt. In Gingers Welt gab es kein links und kein rechts mehr; das Leben wurde geradeaus gelebt. Ich schloss die Tür, denn was sie jetzt am dringendsten brauchte, war Schlaf. Schlaf und Glück.
    Ich taumelte in die Küche und schaltete das Radio aus. Noch mehr Berichte über den Amoklauf in der Grundschule von Dunblane. Die Hintergründe. Die Schuldfrage. Quälende Mutmaßungen. Ich beobachtete meine Mutter, wie sie ihren Kaffee austrank. Sie stand an der Spüle, wo ein gelblicher Strahl weichen Lichts seitlich auf ihr Gesicht fiel und Fältchen hervorhob, die sich nun dauerhaft dort eingegraben hatten. Auch sie hatte sich gut gehalten. Der Prozess des Alterns war freundlich zu ihr gewesen. Und sie hatte die Natur in Ruhe gelassen und sich stattdessen dafür entschieden, die Eitelkeit zu ignorieren wie das lästige, alles erstickende Unkraut, das sie nun mal war.
    Sie wartete auf den einzigen Patienten für heute, einen Mr A, wie sie ihn nannte (aber uns war er allen als Big Dave vom Pub in Polperro bekannt). Seit zehn Jahren war sie ausgebildete Therapeutin, genauso wie sie vorher die unausgebildete für die meisten Probleme in unseren jungen Leben gewesen war. Ihre Praxis befand sich in einem Hinterzimmer, das eigentlich ein Vorderzimmer war, je nachdem, aus welcher Richtung man das Haus betrat.
    Wir wussten alle, dass » Mr A« heimlich in sie verliebt war und seine unpassenden Gefühle hinter dreißig Dollar pro Stunde und einem ziemlich undefinierbaren Krankheitsbild verbarg. Zu jeder Sitzung brachte er meiner Mutter Blumen mit, und jedes Mal lehnte sie sie ab. Er brachte ihr seine Träume, und sie brachte ihm die Realität. Wir hörten das Geräusch von Fahrradreifen draußen auf dem Kies. Meine Mutter spähte durch das Fenster hinaus.
    » Wieder Rosen«, sagte sie.
    » Welche Farbe?«, erkundigte ich mich.
    » Gelb.«
    » Dann ist er glücklich«, stellte ich fest.
    » Gott steh mir bei.«
    Es klingelte.
    » Wir fahren, sobald ich hier fertig bin, Elly, also sorg dafür, dass Ginger bis dahin aufgestanden ist und ihr alle

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