Als Gott ein Kaninchen war
wieder auf dunkle Morgen zusteuerten und auf die lange, kalte Etappe des Winters, der meiner Haut die Farbe von ergrauter Wäsche bescheren würde. Ich wusste, dieser milde Herbst würde das Laub in eine Revolte aus rasenden Farben führen, und so mancher Wald würde schon bald von Gold- und Rottönen dominiert werden, den Farben von Vermont, dem Ort, an den wir im Jahr zuvor gereist waren.
Wir waren von New Paltz aus losgefahren, einer spontanen Eingebung folgend, nur wir drei. Wir wollten dort eigentlich zum Reiten, aber dann gingen wir stattdessen wandern, und auf dem Hinweg nahmen wir jemanden mit, eine junge Frau, die eher aussah wie ein Mädchen. Wir nahmen sie mit, weil per Anhalter fahren gefährlich war – und das sagten wir alle, nicht bloß ich –, und sie sagte: » Ja, ja«, als sie sich auf den Rücksitz zwängte. Als sie mit ihrem schwarzen Müllsack auf dem Schoß neben mir saß, verströmte sie einen starken Geruch; einen Geruch, der sagte: » Leg dich bloß nicht mit mir an.« Und die Kindlichkeit, die wir noch am Straßenrand bei ihr vermutet hatten, war im Auto verschwunden. Denn unter dem Schirm ihrer Dodgers-Kappe verbarg sich das Gesicht eines harten Lebens: Ihre Augen wirkten müder und härter, als es ihrem Alter entsprach. Sie sagte, sie mache Urlaub. Wir wussten, dass sie weglief. Sie nahm nichts von uns an, außer einem großen Frühstück. Wir sahen ihr nach, wie sie in einem Busbahnhof verschwand, verschlungen von einer Leichtsinnigkeit, die sie für Abenteuerlust hielt. Sie sagte, ihr Name sei Lacey, nach der Krimiserie Cagney & Lacey , aus den Achtzigern. Wir wurden schweigsam, nachdem sie weg war.
Ich musste den Schrei gehört haben, doch in dem Moment wurde ich mir dessen gar nicht gewahr. Aber rückblickend erinnerte ich mich, etwas gehört zu haben, doch ich konnte es nicht einordnen. Dann tippte mir jemand auf die Schulter und zeigte auf den Bildschirm drinnen, und ich drehte mich um und sah vier Leute, die schon darauf starrten. Ich konnte nicht genau sehen, was da vor sich ging, denn es war ziemlich düster, also stand ich auf und ging zu den anderen hinein, zögernd, voller Entsetzen, angezogen von dem einen Bild, das den Fernseher ausfüllte.
Blauer Himmel. Ein schöner Septembermorgen. Schwarzer Rauch und Flammen quollen aus der klaffenden Wunde an seiner Seite. Nordturm, lautete der Bildtitel.
Ich muss Joe anrufen. Nordturm. Charlie ist im Südturm. Der Südturm ist unversehrt. Ich wählte seine Nummer und landete direkt auf der Mailbox.
» Joe, ich bin’s. Ich bin sicher, du bist okay, aber ich seh das gerade im Fernsehen und kann es nicht fassen. Hast du schon mit Charlie gesprochen? Ruf mich an.«
Es kam tief, drehte ein, und dann war da dieses Geräusch, ein gequältes Heulen, das sein Ziel ins Visier nahm, um dann in einem mächtigen Feuerball zu explodieren, und Tausende Gallonen brennenden Benzins wüteten durch die Liftschächte und ließen sein Skelett schmelzen. Dein Turm. Charlie. Deiner. Die Frau neben mir fing an zu weinen. Wieder nur die Mailbox. Verdammt.
» Charlie, ich bin’s. Ich seh es. Ruf mich an. Bitte sag mir, dass bei dir alles in Ordnung ist. Bitte ruf mich an, Charlie.«
Gleich darauf klingelte mein Handy. Ich nahm ab.
» Charlie?«
Es war meine Mutter.
» Ich weiß nicht. Ich seh es auch gerade. Ich komm auch nicht durch. Ich habe Nachrichten hinterlassen. Ja, natürlich, versuch’s weiter. Sag mir Bescheid, ja? Natürlich, mach ich. Ich hab dich auch lieb.«
Das Café war gerappelt voll, und trotzdem herrschte betroffene Stille. Fremde trösteten sich gegenseitig. Der Einschlag war tiefer als beim Nordturm, was nicht gut war. Vielleicht war er ja gerade unten, um sich eine Zeitung zu holen, oder auf der Toilette, aber nicht an seinem Platz. Nicht an deinem Platz, Charlie.
Nun sah man winkende Menschen an den Fenstern, die nach Rettung Ausschau hielten. Sie lehnten sich weit hinaus, versuchten, dem schwarzen Rauch, der sie schleichend einschloss, zu entfliehen. Ich wählte erneut Joes Nummer. Scheiß Mailbox.
» Ich bin’s. Ruf mich an. Wir machen uns alle Sorgen. Ich erwische Charlie nicht. Sag mir, ob mit ihm alles okay ist. Ich hab dich lieb.«
Sie stürzten hinaus, zuerst nur ein paar und dann immer mehr, wie verwundete Bogenschützen von einer Festungsmauer. Und dann sah ich sie, die zwei Menschen aus meinen künftigen Träumen. Ich sah, wie sie sich an den Händen hielten und sprangen; wurde Zeuge der letzten Sekunden
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