Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
ist.«
Bald nachdem Anna und Max wieder zur Schule gingen, sahen sie eines Sonntagmorgens eine vertraute Gestalt vom Dampfer steigen und die Landebrücke heraufkommen. Es war Onkel Julius. Er war magerer, als Anna ihn in Erinnerung hatte, und es war wunderbar und doch irgendwie verwirrend, ihn zu sehen. Den Kindern kam es vor, als wäre plötzlich ein Stückchen ihres Berliner Hauses hier am Seeufer aufgetaucht.
»Julius«, rief Papa freudig, als er ihn sah, »was in aller Welt machst du hier?«
Onkel Julius lächelte ein wenig bitter und sagte: »Nun, offiziell bin ich gar nicht hier. Weißt du, daß man es heutzutage für sehr unklug hält, dich auch nur zu besuchen?«
Er war auf einem naturwissenschaftlichen Kongreß in Italien gewesen und einen Tag früher abgefahren, um die Familie auf dem Rückweg nach Berlin zu besuchen. »Ich fühle mich geehrt«, sagte Papa.
»Die Nazis sind wirklich dumm«, sagte Onkel Julius. »Wie könntest du ein Feind Deutschlands sein? Du weißt natürlich, daß sie alle deine Bücher verbrannt haben?«
»Ich war in guter Gesellschaft«, sagte Papa.
»Was für Bücher?« fragte Anna. »Ich dachte, die Nazis hätten alle unsere Sachen weggenommen. Ich wußte nicht, daß sie sie verbrannt haben.«
»Das waren nicht die Bücher, die dein Vater besessen hat«, erklärte Onkel Julius. »Es waren die Bücher, die er geschrieben hat. Die Nazis haben überall im Land große Scheiterhaufen angezündet und alle seine Bücher, die sie finden konnten, hineingeworfen und verbrannt.«
»Zusammen mit den Büchern verschiedener ausgezeichneter Autoren«, sagte Papa, »zum Beispiel denen von Einstein, Freud, H. G. Wells...«
Onkel Julius schüttelte den Kopf über soviel Torheit.
»Gott sei Dank hast du meinen Rat nicht befolgt«, sagte er. »Gott sei Dank bist du früh genug gegangen, aber natürlich«, fügte er hinzu, »kann die Lage in Deutschland nicht lange so bleiben.«
Beim Mittagessen im Garten erzählte er ihnen, was es Neues gab. Heimpi hatte eine Stelle bei einer anderen Familie gefunden. Es war schwierig gewesen, denn wenn die Leute hörten, daß sie bei Papa gearbeitet hatte, wollten sie sie nicht beschäftigen. Das Haus stand noch leer. Bis jetzt hatte es niemand gekauft.
»Wie seltsam«, dachte Anna, »daß Onkel Julius jederzeit hingehen und es betrachten kann.« Er konnte vom Schreibwarenladen her die Straße hinuntergehen und vor dem weißen Gartentor stehenbleiben. Die Läden waren geschlossen, aber wenn Onkel Julius einen Schlüssel hatte, konnte er durch die Vordertür in die dunkle Diele gehen, über die Treppe hinauf ins Kinderzimmer, oder durch die Diele ins Wohnzimmer oder durch den Flur in Heimpis Küche... Anna erinnerte sich deutlich an alles, und in der Phantasie lief sie von unten nach oben durch das ganze Haus, während Onkel Julius weiter mit Mama und Papa redete.
»Wie geht es euch denn?« fragte er. »Kannst du hier schreiben?« Papa hob eine Augenbraue. »Mit dem Schreiben habe ich keine Schwierigkeit«, sagte er, »nur ist es schwer, meine Arbeiten zu veröffentlichen.«
»Unmöglich!« sagte Onkel Julius.
»Unglücklicherweise doch«, sagte Papa. »Die Schweizer sind so ängstlich bedacht darauf, ihre Neutralität zu wahren, daß sie von einem eingeschworenen Gegner der Nazis wie mir nichts veröffentlichen wollen.«
Onkel Julius machte ein empörtes Gesicht.
»Und kommt ihr denn zurecht?« fragte er, »ich meine finanziell?«
»Es geht«, sagte Papa. »Ich muß eben versuchen, die Verleger und Redakteure umzustimmen.«
Dann begannen sie, über gemeinsame Freunde zu reden. Sie schienen eine lange Liste von Namen durchzugehen. Irgendeiner war von den Nazis verhaftet worden. Einer war entkommen und auf dem Weg nach Amerika. Ein anderer hatte einen Kompromiß geschlossen (Anna fragte sich, was das wohl hieß: einen Kompromiß schließen) und hatte einen Artikel geschrieben, in dem er das neue Regime lobte. Die Liste wurde immer länger.
»Heutzutage sprechen die Erwachsenen immer über das gleiche«, dachte Anna, während kleine Wellen gegen das Ufer des Sees leckten und die Bienen in den Kastanienbäumen summten.
Am Nachmittag machten sie mit Onkel Julius einen Rundgang. Anna und Max führten ihn in den Wald hinauf. Er entdeckte dort eine besondere Krötenart, die er nie zuvor gesehen hatte. Später unternahmen sie alle in einem gemieteten Boot eine Fahrt auf dem See, Dann aßen sie zusammen zu Abend, und schließlich war es für Onkel Julius
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