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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kerr
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Zöpfe und machte stets ein etwas besorgtes Gesicht. Anna war nicht ganz sicher, ob sie Vrenelis beste Freundin werden wollte, hielt es aber für undankbar, das auszusprechen.
    Am Montagmorgen machten sie sich alle zusammen auf den Weg. Vreneli ging barfuß und trug ihre Schuhe in der Hand. Als sie sich der Schule näherten, trafen sie andere Kinder, von denen die meisten auch die Schuhe in der Hand trugen. Vreneli stellte Anna einigen der Mädchen vor, die Jungen blieben auf der anderen Straßenseite und starrten wortlos herüber.
    Bald nachdem sie den Schulhof erreicht hatten, läutete der Lehrer eine Glocke, und es entstand ein verrücktes Getümmel, weil jeder schnell seine Schuhe anzog. Es war Vorschrift, daß man in der Klasse Schuhe anhaben mußte, aber die meisten Kinder ließen sie bis zum letzten Augenblick aus.
    Annas Lehrer hieß Herr Graupe. Er war ziemlich alt und hatte einen graugelben Bart, und alle hatten Angst vor ihm. Er wies Anna einen Platz neben einem fröhlichen blondhaarigen Mädchen namens Rösli an, und als Anna durch den Mittelgang zwischen den Bänken auf ihren Platz ging, hielten alle den Atem an.
    »Was ist los?« flüsterte Anna, sobald Herr Graupe den Rücken gedreht hatte.
    »Du bist durch den Mittelgang gegangen«, flüsterte Rösli zurück. »Nur die Jungen gehen durch den Mittelgang.«
    »Wo gehen dann die Mädchen?«
    »An den Seiten vorbei.«
    Anna kam das seltsam vor, aber Herr Graupe hatte begonnen, Zahlen mit Kreide an die Tafel zu schreiben, es blieb also keine Zeit, weiter darüber zu reden.
    Die Aufgaben waren leicht, und Anna war schnell damit fertig. Dann blickte sie sich in der Klasse um.
    Die Mädchen saßen in zwei Reihen auf der einen Seite, die Jungen auf der anderen. Es war ganz anders als in der Schule in Berlin, wo sie durcheinander gesessen hatten. Als Herr Graupe befahl, die Hefte sollten ihm nach vorn gebracht werden, stand Vreneli auf und sammelte die Hefte der Mädchen ein, und ein großer rothaariger Junge sammelte die der Jungen ein.
    Der rothaarige Junge ging durch den Mittelgang, Vreneli ging an der Seite vorbei, bis sie sich, jeder mit seinem Stoß Hefte, vor Herrn Graupes Pult trafen.
    Selbst dort vermieden sie es sorgfältig, sich anzusehen, aber Anna bemerkte, daß Vreneli unter ihrem mausfarbenen Haar hellrosa angelaufen war.
    In der Pause jagten die Jungen einem Fußball nach und balgten sich auf der einen Seite des Hofes herum, während die Mädchen auf der anderen Seite Hüpfen spielten oder still dasaßen und plauderten. Aber obgleich die Mädchen so taten, als nähmen sie keine Notiz von den Jungen, beobachteten sie sie doch ausgiebig unter verschämt gesenkten Lidern, und als Vreneli und Anna zum Mittagessen nach Hause gingen, interessierte sich Vreneli so sehr für die Albereien des rothaarigen Jungen auf der anderen Straßenseite, daß sie beinahe gegen einen Baum geprallt wäre. Am Nachmittag hatten sie noch eine Gesangstunde, und dann war die Schule für den Tag beendet.
    »Wie hat es dir gefallen?« fragte Mama, als Anna um drei Uhr wieder zu Hause war.
    »Ach, ganz gut«, sagte Anna. »Nur eines ist komisch: Die Jungen und Mädchen sprechen nicht miteinander, und ich weiß auch nicht, ob ich da viel lernen kann.«
    Als Herr Graupe die Aufgaben nachgesehen hatte, hatte er mehrere Fehler gemacht, und auch in der Rechtschreibung schien er nicht allzu sicher zu sein.
    »Nun, das ist nicht so wichtig«, sagte Mama. »Es wird dir ganz gut tun, wenn du dich nach deiner Krankheit ein wenig ausruhen kannst.«
    »Das Singen gefällt mir«, sagte Anna. »Sie können alle jodeln, und sie wollen es mir beibringen.«
    »Um Himmels willen!« sagte Mama und ließ sofort eine Masche fallen.
    Mama lernte stricken. Sie hatte es nie zuvor getan.
    Anna brauchte einen neuen Pullover, und Mama versuchte zu sparen. Sie hatte Wolle und Stricknadeln gekauft, und Frau Zwirn hatte ihr gezeigt, wie man sie benutzt. Aber irgendwie sah es bei Mama nie richtig aus. Während Frau Zwirn dasaß und die Nadeln leicht zwischen den Fingern tanzen ließ, strickte Mama von der Schulter aus. Jedesmal wenn sie die Nadel in die Wolle stieß, kam es einem vor wie ein Angriff.
    Jedesmal, wenn sie den Faden durchzog, zog sie so fest, daß er beinahe riß. Deshalb wuchs der Pullover auch nur langsam, und das Gestrick sah aus wie ein dicker Tweed.
    »Ich habe eine solche Strickerei noch nie gesehen«, sagte Frau Zwirn erstaunt, »aber es wird schön warm sein, wenn es fertig

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