Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
crayon!« rief sie triumphierend und schreckte zwei Damen auf, die gerade eine Schreibmaschine prüften. »Un bon marche crayon, s’il vous plait.«
Der Mann sah erschöpft aus. Er holte eine andere Schachtel und zog einen dünneren blauen Bleistift heraus. Er reichte ihn Anna, die nickte und ihm den roten zurückgab. Dann gab ihr der Mann zwanzig Centimes zurück. Er blickte Max fragend an.
»Oui«, sagte Anna aufgeregt, »un autre bon marche crayon!« und die Prozedur wurde mit Maxens Bleistift wiederholt.
»Merci«, sagte Max.
Der Mann nickte nur. Er machte einen erschöpften Eindruck. »Wir haben jeder zwanzig Centimes«, sagte Anna. »Denk dir nur, was wir uns dafür kaufen können!«
»Ich glaube, es ist nicht viel«, sagte Max.
»Aber es ist besser als nichts«, sagte Anna. Sie wollte dem Mann zeigen, daß sie dankbar war und sagte: »Bonsoir, Madame.«
Mademoiselle Martel kam am Nachmittag. Eine französische Dame in einem netten grauen Kostüm und einem struppigen pfeffer-und-salz-farbenen Haarknoten. Sie war Lehrerin gewesen und sprach ein wenig Deutsch, eine Tatsache, die bis dahin niemanden interessiert hatte. Aber nun war Paris plötzlich von Flüchtlingen vor Hitler überflutet, die alle Französisch lernen wollten, und sie lief sich die Füße wund, um ihnen allen Stunden zu geben. Vielleicht, so dachte Anna, war dies auch der Grund für den ständigen Ausdruck milder Überraschung auf ihrem etwas verblühten Gesicht.
Sie war eine sehr gute Lehrerin. Sie sprach von Anfang an fast nur Französisch mit den Kindern, benutzte dazu die Zeichensprache und Mimik, wenn sie sie nicht gleich verstanden.
»Le nez«, sagte sie zum Beispiel und wies auf ihre gut gepuderte Nase, »le main«, sie wies auf ihre Hand, und »les doigts«, sie wackelte mit den Fingern.
Dann schrieb sie die Wörter auf, und sie übten sie zu buchstabieren und auszusprechen, bis sie sie kannten.
Gelegentlich gab es ein Mißverständnis, zum Beispiel sagte sie »les cheveux«, und zeigte auf ihr Haar. Max war überzeugt, daß »cheveux« Knoten bedeutete und brach in verlegenes Gekicher aus, als sie ihn aufforderte, seine eigenen »cheveux« zu zeigen.
An den Tagen, an denen sie nicht kam, um ihnen Unterricht zu geben, machten sie Hausaufgaben.
Zuerst lernten sie nur neue Wörter, aber nach kurzer Zeit verlangte Mademoiselle Martel, daß sie kleine Geschichten auf französisch schrieben.
»Das geht nicht«, sagte Anna, »wir können doch noch nicht genug französisch.«
Mademoiselle tippte auf das Wörterbuch. »Le dictionnaire«, sagte sie bestimmt.
Es wurde ein harter Kampf. Sie mußten beinahe jedes Wort nachsehen, und Anna brauchte fast den ganzen Morgen, um eine halbe Seite zu schreiben. Als sie es dann Mademoiselle Martel beim nächsten Unterricht zeigte, war fast alles falsch.
»Mach dir nichts draus, es wird schon werden«, sagte Mademoiselle Martel bei einem ihrer seltenen Ausflüge ins Deutsche, und Max neckte Anna am folgenden Tag: »Mach dir nichts draus, es wird schon werden«, als sie schon länger als eine Stunde kämpfte, um eine langweilige Begebenheit zwischen einem Hund und einer Katze zu schildern.
»Und was ist mir dir? Du hast deinen Aufsatz auch noch nicht«, sagte Anna böse.
»Doch«, sagte Max, »ich habe schon über eine Seite.«
»Das glaube ich nicht.«
»Dann sieh doch selbst.«
Es stimmte. Er hatte mehr als eine Seite geschrieben, und es sah alles französisch aus.
»Was bedeutet es denn?« fragte Anna mißtrauisch.
Max übersetzte schwungvoll.
»Ein Junge hatte einmal Geburtstag. Viele Leute kamen. Sie hatten ein großes Festmahl. Sie aßen Fisch, Fleisch, Butter, Brot, Eier, Zucker, Erdbeeren, Hummer, Eis, Tomaten, Mehl...«
»Mehl können sie doch nicht essen«, sagte Anna.
»Du weißt doch nicht, was sie gegessen haben«, sagte Max, »übrigens weiß ich auch nicht, ob das Wort Mehl heißt. Ich hab es nachgesehen, hab es aber wieder vergessen.«
»Ist dies hier die Liste von dem, was sie aßen?« fragte Anna und wies auf die Seite, auf der es von Kommas wimmelte.
»Ja«, sagte Max.
»Und was heißt das letzte Stück?« Am Ende stand ein Satz, der kein Komma enthielt.
»Das ist der beste Teil«, sagte Max stolz, »ich glaube, es heißt ›dann sind sie alle geplatzt!‹«
Mademoiselle Martel las Maxens Aufsatz ohne mit der Wimper zu zucken. Sie sagte, sie könne sehen, daß er sein Vokabular erweitert habe. Aber sie war weniger erfreut, als er zum nächsten Mal einen Aufsatz
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