Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
vorwies, der fast gleichlautend war. Dieser fing an: »Es war einmal eine Hochzeit...«, und das Essen, das die Hochzeitsgäste bekamen, war nur wenig anders als im ersten Aufsatz, aber es endete wieder damit, daß alle platzten. Mademoiselle Martel zog die Stirn kraus und trommelte mit den Fingern auf dem Wörterbuch. Dann sagte sie Max sehr ernst, das nächste Mal müsse er etwas anderes schreiben.
Am nächsten Morgen saßen die Kinder wie gewöhnlich am Eßzimmertisch und hatten die Bücher auf dem roten Wachstuch ausgebreitet. Anna quälte sich mit einer Geschichte von einem Mann, der ein Pferd und eine Katze besaß. Der Mann liebte die Katze, und die Katze liebte das Pferd, und das Pferd liebte den Mann, aber es liebte die Katze nicht ... es war zu wahnwitzig, was dabei herauskam, wo sie doch soviel Interessantes hätte schreiben können, wenn es nur hätte auf Deutsch sein dürfen. Max schrieb überhaupt nicht, sondern starrte in die Luft.
Als Grete hereinkam und sagte, sie müßten jetzt ihre Sachen wegräumen, weil sie den Tisch für das Mittagessen decken wolle, war sein Blatt Papier noch ganz weiß.
»Aber es ist erst zwölf Uhr«, rief Anna.
»Später habe ich keine Zeit«, sagte Grete schlecht gelaunt wie gewöhnlich.
»Aber wir können doch nirgendwo anders arbeiten - dies ist der einzige Tisch«, sagte Max - und er überredete sie mit Mühe, ihnen den Tisch noch ein wenig zu lassen.
»Was willst du tun?« fragte Anna, »wir wollen doch heute nachmittag ausgehen.«
Max schien zu einem Entschluß zu kommen. »Gib mir das Wörterbuch«, sagte er.
Und er blätterte es munter durch (sie hatten beide jetzt Übung darin) und Anna hörte ihn leise »Begräbnis« murmeln.
Als Mademoiselle Martel zur nächsten Stunde kam, las sie schweigend Maxens Aufsatz. Max hatte sein bestes getan, sein Grundthema zu variieren. Die Trauergäste in seiner Geschichte - wie es schien, von Kummer gebeugt - aßen Papier, Pfeffer, Pinguine, Pemmikan und Pfirsiche - außer einigen weniger exotischen Speisen, und dem bisherigen Schlußsatz, daß alle platzten, hatte er noch hinzugefügt: »So gab es noch viele andere Beerdigungen.«
Mademoiselle Martel sagte einige Augenblicke lang überhaupt nichts. Dann sah sie Max fest und streng an und sagte: »Junger Mann, du brauchst eine Veränderung.«
Als Mama zum Schluß der Stunde hereinkam, wie sie es oft tat, um zu fragen, wie die Kinder weiterkamen, hielt Mademoiselle eine kleine Rede. Sie sagte, sie habe die Kinder jetzt drei Wochen lang unterrichtet, und sie machten gute Fortschritte. Aber es wäre jetzt die Zeit gekommen, wo sie mehr lernen würden, wenn sie mit anderen Kindern zusammenkämen und nur Französisch in ihrer Umgebung hörten.
Mama nickte. Es war klar, daß sie das gleiche gedacht hatte. »Es ist beinahe Weihnachten«, sagte sie.
»Vielleicht geben Sie ihnen noch ein paar Stunden vor den Ferien, und dann können sie in die Schule gehen.«
Sogar Max arbeitete während der noch verbleibenden Zeit fleißig. Die Aussicht, in eine Schule zu gehen, wo nur französisch gesprochen wurde, war ziemlich unheimlich.
Und dann kam Weihnachten heran. Grete fuhr ein paar Tage vorher auf Urlaub nach Österreich, und da Mama mit Kochen voll beschäftigt war, wurde die Wohnung bald ziemlich staubig. Aber es war so viel schöner ohne Gretes knurrige Gegenwart, daß es niemand bedauerte. Anna freute sich auf Weihnachten und hatte gleichzeitig Angst davor. Sie freute sich darauf, denn man konnte nicht anders, als sich auf Weihnachten freuen, aber sie hatte auch schreckliche Angst, sie würde an Berlin denken müssen, und wie es dort zu Weihnachten immer gewesen war. »Glaubst du, daß wir einen Baum haben werden?« fragte sie Max. In Berlin hatte immer ein großer Baum in der Diele gestanden, und eine der Weihnachtsfreuden war es gewesen, die vielen bunten Glaskugeln, die Vögel mit den Federschwänzen und die Trompeten, auf denen man richtig blasen konnte, wiederzuerkennen, wenn sie jedes Jahr am Weihnachtsbaum erschienen.
»Ich glaube nicht, daß die Franzosen viel auf Weihnachtsbäume geben«, sagte Max.
Trotzdem gelang es Mama, einen Baum zu besorgen. Als Papa die Kinder am frühen Weihnachtsabend zur Feier rief und sie ins Eßzimmer stürzten, war er das erste, was Anna sah. Es war nur ein kleiner Baum - etwa fünfzig Zentimeter hoch - und statt des Glasschmucks hatte Mama ihn mit Lametta behängt und mit Kerzchen besteckt. Aber er sah so hübsch aus, leuchtend grün und
Weitere Kostenlose Bücher